Ärzte

[214] Auf die Rätsel und Mysterien unseres geheimnisvollen märchenhaften Organismus allmählich zu kommen, sei es auf intuitivem Wege, sei es logisch, sei es einfacher zufälliger »Glücksfall des Denkens und Bedenkens«, wäre doch die einzige würdige, menschenwürdige Aufgabe des modernen jungen Arztes! Was nützt der Welt seine mehr oder weniger scheinbar berechtigte »Skepsis«, wenn sein »innerer Idealismus« ihn nicht ewig gegen seine eigenen Erkenntnisse sogar antreibt, das Getriebe dieser geheimnisvollen rätselhaften Maschinerie »Mensch« zu erforschen und ihr beizukommen, vorurteilslos?!! Was nützt die Verachtung der meisten Medikamente, wenn es dennoch Solche gibt, die[214] »mysteriöse« Heilung bringen?!? Ungläubigkeit und Zweifel können leider Niemandem helfen, sondern nur hoffnungsvoller Idealismus, und sei es auch nur Der eines zufälligen Ereignisses! Die Welt und den menschlichen Organismus als leider unabänderlich zu betrachten, entspricht nicht den Plänen Gottes, die Menschen allmählich, ganz allmählich aus eigener Kraft und Energie dennoch Gottähnlich zu gestalten!

Das »konservative Element« ist ein tiefes Un glück des absolut ungenialen Denkens, und jede Stunde sollte Besseres, Richtigeres bringen! Niemand soll sich selbst auf seine »Körperhaltung« endgültig verlassen, denn es gibt eine ganze Reihe idealer Körper-Übungen, die die »göttliche Elastizität« allmählich garantieren und befördern! Ja, er glaubt eher an die Stetigkeit körperlich-seelischer Verhältnisse, und sein Idealismus in bezug auf körperliche und daher eben auch geistig-seelische Weiter-Entwicklung ist daher stets auf ein tragisches Minimum beschränkt! Medikamente sind ihm ein günstiges Geschäft für den Apotheker, und er forscht den Mysterien der Medikamente selten nach, verläßt sich lieber auf die Heilmethoden der einfachen Natur selbst, die oft geringe Erfolge haben außer bei denen, denen überhaupt nichts Positives fehlt. Der »Trostlose und Skeptische« in bezug auf sich selbst, spürt die fast für ewig gehemmte Weiter-Entwicklung seines sonst vielleicht genialen Organismus, und verhindert unwillkürlich sogar die Anderen, an ihre eigene Weiter-Entwicklung zu glauben und vor allem daran zu arbeiten! Niemand hat bis jetzt Denen idealiter geglaubt, die der Menschheit direkte Vorteile, sei es[215] auf intuitivem, sei es auf logischem Denk-Wege gebracht haben! »Skeptizismus« ist die »Philosophie unserer Ärzte«, obzwar sie die Rätsel unserer Organisation besser, genauer kennen, ahnen sollten als wir Laien, verlassen sich alle auf ihre sogenannte natürliche Wirkung, versuchen es niemals, Schäden auszubessern, sondern verlassen sich leider auf Die, denen sie aus irgendwelchen Gründen vollkommen nicht genügen. Idealismus, d.h. die Hoffnung, sich in irgendeiner Richtung merkwürdig zu verbessern, zu vervollkommnen, ist ihnen fremd und unsympathisch. Sie halten sich an Den, Dem sie genügen, interessantes Rätsel ist Ihnen Niemand, wie sie eben einmal selbst rätsellos sind. Der Arzt hat ein geringes Bedürfnis, den jeweiligen Organismus zu »vervollkommnen«, ja, er glaubt nicht recht daran. Sie vermeiden das geniale wenn auch unsichere Experiment! Sie vermeiden das Experiment, das eventuell mißlingt, statt hoffnungsfreudig etwas zu riskieren, wenn schon sowieso die Sache fast schief geht! Das »konservative Element« ist ein Unglück, ja fast ein Verbrechen in allen Richtungen dieses unseres komplizierten und noch ganz unerforschten Lebens! Der Glaube an die »Weiter-Entwicklung« jeglichen Seins in uns ist eigentlich die einzige wirkliche »Religiosität«. So viele Menschen betrachten sich als »endgültige Entwicklung«, lassen ihre Kräfte daher verkümmern. Besonders schöne anmutige Frauen. So wird der kompliziert Erkrankte der einfachen kraftlosen blöden Natur-Heil-Kraft zugeführt, die ihm nicht zu helfen vermag, und der Arzt glaubt seine Pflicht getan zu haben, ohne in die »Mysterien« der kranken Organisation[216] auch nur einzudringen! Was er verordnet, ist für den »gesunden Organismus« recht vorteilhaft, aber der kranke Organismus ist ein schweres Mysterium und ein Rätsel. Es zu ergründen, würde vielleicht eine ideale Lebensaufgabe sein, aber Wer gibt sich dazu her?!? Man behilft sich mit allgemeinen gutgemeinten Ratschlägen, die dem einzelnen Falle keineswegs je angepaßt sind. Und so gehen Viele, Viele zugrunde, die einer idealen außergewöhnlichen Behandlung ihre Rettung verdankt hätten! Der Arzt hat, abgesehen von ökonomischen Nachteilen, einen leisen unbewußten Groll gegen den Patienten, dem er nicht helfen kann, und führt den Grund auf die Unfolgsamkeit des sein eigenes Leben durchleidenden Organismus zurück. Nie hat der Arzt eine düstere Idee, einen Selbst-Vorwurf, eine Selbst-Anklage eines imminenten Irrtums, niemals, sondern er schiebt jede Schuld dem verhältnismäßig unschuldigen rätselhaften Patienten zu. Der Arzt ist stets der geheime Feind des Patienten, bei dem die Heilungs-Prozedur nicht in angemessener Zeit vor sich geht. Selbst »hohe Honorare« versöhnen ihn nicht mit den Heilungsprozessen, die die Natur aus irgendeinem mysteriösen Grunde verweigert. Er beschäftigt sich nie mit seinen eigenen eventuellen Irrtümern, sondern pflegt und hegt seinen fast pa thologischen »Größenwahn« auf Kosten seines Patienten! Dieselben geben ihm in Allem Recht, und der Patient ist eine Art von feigem selbstmörderischem Verbrecher an sich selbst. Niemand glaubt ihm, das Meiste seiner Zustände wird als Einbildung, Hysterie oder absichtliche Entstellung gedeutet. Niemand glaubt dem noch so aufrichtigen Kranken, und er befindet sich in einer qualvollen[217] Situation den sogenannten Menschen gegenüber. Der Arzt hat immer Recht, weil er seine durch Prüfungen protokollierte Wissenschaft beherrscht, ohne den Einzelfall, das Einzel-Ereignis auch nur zu ahnen! Der Patient ist das unglückselige Opfer der Erkenntnisse, die gerade auf seinen speziellen Fall durchaus nicht passen! So muß er den genialen Heilungsprozessen der Natur sich hilflos überlassen, und wird von den Ärzten an einem angeblich eigenen Unglück schuld und dumm-renitent betrachtet. Wenige Ärzte verstehen es genial, sich ganz in einen ihnen völlig fremden Organismus gerecht liebevoll-genial hineinzuversetzen. Die Meisten terrorisieren nur mit ihren Vorurteilen und haben nicht die Menschenfreundlichkeit, dem Fremden, Unbekannten, gerecht zu werden. Die meisten Patienten sind scheinbar bornierte Feinde Derer, die sie nach den allgemeinen wissenschaftlichen Regeln erretten wollen. Sie haben alle Verwandte und sogenannte Freunde gegen sich und halten ihr unglückseliges Schicksal für ein nur leider wohlverdientes! Mitleid gibt es von keiner Seite als von der »Geliebten«, und Die gilt als störender Laie trotz ihrer liebevollen, weinenden, ängstlichen Seele. Der Arzt sagt: »Fräulein, davon verstehen Sie nichts!« Und ihre Tränen überlassen ihn dem grausamen unerbittlichen Dasein. Manches Mal kommt sie sich selbst als eine Art von Verbrecherin an dem »Geliebten« vor, gibt dem Arzte nach und nach wirklich Recht und zieht sich still weinend zurück, den »Geliebten« seinem Schicksale tragisch überlassend. Hilflos läßt er sie von sich scheiden, und wenn sie zum letzten Male an seinem Bette[218] weinend kniet, segnet er ihr geliebtes Herz, und entläßt sie in das grausame Leben, dem sie nicht Stand halten kann. Manche raffen sich auf und vergessen. Aber manch eine rafft sich eben nicht auf und vergißt nicht!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 214-219.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein Lebensabend
Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]