Telepathie

[304] Telepathische Séance des von der Front kommenden Hauptmannes Groß vor einer aristokratischen Gesellschaft im Hotel Bristol (Platz 100 Kronen zugunsten der Kriegsblinden).

Weshalb sich also dann noch überhaupt über irgend etwas wundern?!?

»Hinsichtlich der Medien möchte ich auch einem Irrtum entgegentreten. Die Mehrzahl der Menschen sind gute Medien, ich glaube sogar, von hundert fünfundneunzig. Bei meiner letzten Séance im Hotel Bristol habe ich bei fünfzig Versuchen mich ebensovieler Medien bedient und keine Aufgabe ungelöst gelassen und kein Medium ablehnen müssen. Ich habe die Gewohnheit, meinen Medien voranzugehen. Ich schaue nicht zurück, blicke nicht nach rechts, nicht nach links, sondern gehe vorwärts und lasse mich durch kein Flüstern oder Raunen ablenken und bemühe mich, so rasch als es nur geht, die mir gestellte Aufgabe durchzuführen. Je verwickelter, je unlogischer die Aufgabe ist, desto angenehmer ist sie für mich. So hat im Hotel Bristol, um ein Beispiel zu erwähnen, ein Herr mir telepathisch aufgetragen, einem Zuschauer aus der Zigarettentasche eine Zigarette zu entnehmen und diese einem andern Herrn in den Mund zu stecken, dann ein Zündhölzchen von einem dritten Herrn zu entlehnen, es sofort anzuzünden und es brennend bis zu dem Herrn, der die Zigarette im Munde hielt, zu tragen, dann aber das Hölzchen auszulöschen, ohne die Zigarette in Brand zu bringen. Logisch wäre gewesen, die[305] Zigarette anzuzünden und dann auszulöschen, aber der Herr, der mir die unlogische Folgerung auferlegte, hat jedenfalls mehr an ein schwieriges Experiment gedacht als an die gewöhnlichen, so ziemlich abgebrauchten Vorführungen.

Welche Vorgänge sich in meinem Innern während dieser Experimente abspielen, kann ich leider nicht beantworten. Ich bin mir selbst nicht bewußt, welchem Gefühle ich folge. Ich weiß nur, daß ich bei einer Séance vollständig alle Gedanken ausschalte, daß alle Vorgänge um mich herum mir durchaus unklar sind, daß ich aber sicher empfinde, ob ich eine Aufgabe gelöst habe oder nicht. Soll ich einen Zündhölzchenständer ergreifen, und ich erfasse die nebenan stehende elektrische Lampe, so gleiten meine Finger an dem falschen Gegenstande ab, um gleich darauf mit sicherer Hand das gewünschte Objekt aufzuheben. Ein halb geflüstertes ›Bitte, weiter‹, das ich zu dem Medium spreche, das hinter mir steht und das ich überhaupt nicht beobachte, dessen Konturen ich kaum erkenne, genügt, um das Experiment weiter durchzuführen und zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen. So habe ich einmal im Feld ein mir vollständig unbekanntes Kartenspiel auf telepathischem Wege gespielt. Der eigentliche Spieler saß hinter mir und legte seine Hand an mein Hinterhaupt. Ich teilte aus, spielte nach den Regeln aus, zog die Stiche ein oder gab sie den Gegenspielern und spielte ohne Kenntnis des Spieles, einfach nur als das ausübende Organ der Gedanken des eigentlichen Spielers. Hätte dieser sich durch eine [306] Renonce geirrt, so hätte ich unbedingt diesen Fehler seines Denkens sofort in die Tat umgesetzt. Ich möchte nur nebenbei erwähnen, daß ich das Spiel auch heute noch nicht einmal dem Namen nach kenne. Es war natürlich keines jener Spiele, bei denen durch ›Ansagen‹ eine Partie entschieden werden kann.«

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 304-307.
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