Der Kranke

[327] Er ließ absichtlich beide Türen weit offen, die grüngepolsterte und die weiße, im Falle daß doch Jemand Neugieriger hereinschaue. Aber es kam natürlich Niemand. Auf der Straße hörte man unangenehme und völlig unnötige Geräusche, aber im Zimmer des Kranken blieb es mäuschenstill.[327] Selbst die weit geöffneten Fenster waren wie an die blaue Tapete angenagelt. Hie und da kam das ganz junge Stubenmädchen geschäftig und scheinbar sorglos vorüber. Solche merkwürdige Menschen denken nicht nach, niemals, über die nächsten bangen, langweiligen, nichtssagenden Stunden, oder gar über das Letzte. Wie es sich ereignet, ereignet es sich, ein idiotischer Heroismus. Aber der Kranke spürt Alles doppelt und dreifach, ja tausendfach. Er begreift überhaupt nicht, wie man unter gewissen ungewissen Umständen dahinleben könne. Er empfindet die lächerliche, schreckliche und unnütze Last des Daseins, des Existierens an und für sich wie ein allzuschwer bepacktes Tragtier, dem jeder Schritt eine besondere Qual ist. Wozu Ehrgeiz, Eifersucht, Liebe?! Während er so dachte, und welcher einsame Kranke grübelte nicht sich gleichsam bereits selbst in sein Grab hinein, aus Mangel an Lebens-Energien, kam das ganz junge vollkommen gedankenlose Stubenmädchen vorbei, mit ihren tausend Pflichten bepackt, die sie scheinbar wenigstens gar nicht spürte, eine schwer arbeitende junge Lerche, unbewußt ihres Geschickes! Sie trällerte leichtfüßigst vorbei, unbewußt des Weltkrieges und aller anderen grauenhaften Belastungen dieses düsteren Daseins. Der Kranke lag da, tausend Kilometer entfernt von der düsteren Sorge des unnötigen und beschwerlichen Daseins, begriff nicht, wieso es Menschen gebe, die so Schicksal-ergeben leichtfüßigst trällern, wie wenn es keine schweren Komplikationen gäbe in diesem komplizierten Leben! Der Kranke lag da, tausend Kilometer entfernt von den Sorgen aller Anderen – – –.

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 327-328.
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