Siebente Geschichte.

[308] Von dem Schlosse der Schneekönigin und was sich später darin zutrug.


Des Schlosses Wände waren gebildet von dem treibenden Schnee und Fenster und Thüren von den schneidenden Winden, da waren über hundert Säle, alle wie der Schnee sie zusammentrieb, der größte erstreckte sich mehrere Meilen lang, alle beleuchtet von dem starken Nordlicht, und sie waren leer, eisig, kalt und glänzend. Nie gab es hier Lustbarkeit, nicht einmal einen kleinen Bärenball, wozu der Sturm aufspielen und die Eisbären auf den Hinterfüßen gehen und dabei ihre Geberden hätten zeigen können; nie eine kleine Spielgesellschaft mit Maulklapp und Tatzenschlag; nie ein klein bißchen Kaffeeklatsch von den weißen Fuchsfräuleins; leer, groß und kalt war es in den Sälen der Schneekönigin. Die Nordlichter flammten so genau, daß man sie zählen konnte, wenn sie am höchsten und wenn sie am niedrigsten standen. Mitten in diesem leeren unendlichen Schneesaale war ein zugefrorener See, der war in tausend Stücke gesprungen, aber jedes Stück war dem andern so gleich, daß es ein wahres Kunstwerk war. Mitten auf diesem saß die Schneekönigin, wenn sie zu Hause war, und dann sagte sie, daß sie im Spiegel des Verstandes sitze, und daß dieser der einzige und der beste in der Welt sei.

Der kleine Karl war ganz blau vor Kälte, ja fast schwarz, aber er merkte es nicht, denn sie hatte ihm den Frostschauer[308] abgeküßt, und sein Herz glich einem Eisklumpen. Er ging und schleppte einige scharfe, flache Eisstücke, die er auf alle mögliche Weise an einander paßte, gleich wie wenn wir kleine Holztafeln haben und diese in Figuren zusammenlegen, was man das chinesische Spiel nennt. Karl ging auch und legte Figuren, die allerkünstlichsten; das war das Eisspiel des Verstandes. In seinen Augen waren die Figuren ganz ausgezeichnet und von der höchsten Wichtigkeit; das machte das Glaskörnchen, welches ihm im Auge saß! Er legte ganze Figuren, die ein geschriebenes Wort waren, aber nie konnte er es herausbringen, das Wort zu legen, was er gerade haben wollte, das Wort »Ewigkeit«, und die Schneekönigin hatte gesagt: »Kannst Du die Figur ausfindig machen, dann sollst Du Dein eigener Herr sein und ich schenke Dir die ganze Welt und ein Paar neue Schlittschuhe.« Aber er konnte es nicht.

»Nun sause ich fort nach den warmen Ländern!« sagte die Schneekönigin. »Ich will hinfahren und in die schwarzen Töpfe hineinsehen!« – Das waren die feuerspeienden Berge Ätna und Vesuv, wie man sie nennt. »Ich werde sie ein wenig weiß machen, das gehört dazu, das thut den Citronen und Weintrauben gut!« Damit flog die Schneekönigin davon, und Karl saß ganz allein in dem viele Meilen weiten, großen, leeren Eissaal, betrachtete die Eisstücke und dachte und dachte, sodaß es in ihm knackte, ganz stille und steif saß er, man hätte glauben können, er sei erfroren.

Da war es, daß das kleine Gretchen durch das Thor in das Schloß trat. Hier herrschten schneidende Winde; aber sie betete ein Abendgebet, und da legten sich die Winde, als ob sie schlafen wollten, und sie trat in die großen, leeren, kalten Säle hinein – da erblickte sie Karl, sie erkannte ihn, sie flog ihm um den Hals, hielt ihn dann fest und rief: »Karl! lieber kleiner Karl! da habe ich Dich endlich gefunden!«

Aber er saß ganz still, steif und kalt; da weinte das kleine Gretchen heiße Thränen, die fielen auf seine Brust, sie drangen[309] in sein Herz, sie thauten den Eisklumpen auf und verzehrten das kleine Spiegelstück darin; er betrachtete sie, und sie sang:


»Rosen, die blühen und verwehen,

Wir werden das Christkindlein sehen!«


Da brach Karl in Thränen aus; er weinte, daß das Spiegelkörnchen aus dem Auge schwamm, er erkannte sie und jubelte: »Gretchen! liebes, kleines Gretchen! – Wo bist Du doch so lange gewesen? Und wo bin ich gewesen?« Und er blickte rings um sich her. »Wie kalt ist es hier! wie es hier weit und leer ist!« Und er klammerte sich an Gretchen an, und sie lachte und weinte vor Freude. Das war so herrlich, daß selbst die Eisstücke vor Freude ringsumher tanzten, und als sie müde waren und sich niederlegten, lagen sie gerade in den Buchstaben, von denen die Schneekönigin gesagt hatte, daß er sie ausfindig machen sollte, dann sei er sein eigener Herr und sie wollte ihm die ganze Welt und ein Paar neue Schlittschuhe geben.

Gretchen küßte seine Wangen, und sie wurden blühend; sie küßte seine Augen, und sie leuchteten gleich den ihren; sie küßte seine Hände und Füße, und er war gesund und munter. Die Schneekönigin mochte nun nach Hause kommen, sein Freibrief stand da mit glänzenden Eisstücken geschrieben.

Sie faßten einander an den Händen und wanderten aus dem großen Schloß hinaus; sie sprachen von der Großmutter und von den Rosen auf dem Dache; und wo sie gingen, ruhten die Winde und die Sonne brach hervor. Als sie den Busch mit den roten Beeren erreichten, stand das Renntier da und wartete; es hatte ein anderes junges Renntier mit sich, dessen Euter voll war, und dieses gab den Kleinen seine warme Milch und küßte sie auf den Mund. Dann trugen sie Karl und Gretchen erst zur Finnin, wo sie sich in der heißen Stube auswärmten und über die Heimreise Bescheid erhielten, dann zur Lappin, welche ihnen neue Kleider genäht und ihren Schlitten in Stand gesetzt hatte.

Das Renntier und das Junge sprangen zur Seite und[310] folgten mit, bis zur Grenze des Landes; dort sproßte das erste Grün hervor, da nahmen sie Abschied vom Renntier und von der Lappin. »Lebt wohl!« sagten alle. Und die ersten kleinen Vögel begannen zu zwitschern, der Wald hatte grüne Knospen, und aus ihm kam auf einem prächtigen Pferde, welches Gretchen kannte (es war vor die goldene Kutsche gespannt gewesen), ein junges Mädchen geritten, mit einer glänzenden, roten Mütze auf dem Kopfe und Pistolen im Halfter. Das war das kleine Räubermädchen, welches es satt hatte, zu Hause zu sein, und nun erst gegen Norden und später, wenn ihr dies zusagte, nach einer anderen Weltgegend hin wollte. Sie erkannte Gretchen sogleich, und Gretchen erkannte sie, das war eine Freude.

»Du bist ein wahrer Künstler im Herumstreifen!« sagte sie zum kleinen Karl. »Ich möchte wissen, ob Du verdienst, daß man Deinethalben bis an der Welt Ende läuft!«

Aber Gretchen klopfte ihr die Wangen, und fragte nach dem Prinzen und der Prinzessin.

»Die sind nach fremden Ländern gereist!« sagte das Räubermädchen.

»Aber die Krähe?« fragte Gretchen.

»Ja, die Krähe ist tot!« erwiderte sie. »Die zahme Geliebte ist Witwe geworden und geht mit einem Stückchen schwarzen, wollenen Garn um das Bein; sie klagt ganz jämmerlich, und Geschwätz ist das Ganze! – Aber erzähle mir nun, wie es Dir ergangen ist und wie Du ihn erwischt hast.«

Gretchen und Karl erzählten.

Das Räubermädchen nahm beide bei den Händen und versprach, daß, wenn sie je durch ihre Stadt kommen sollte, so wolle sie hinaufkommen, sie zu besuchen, und dann ritt sie in die weite Welt hinaus. Aber Karl und Gretchen gingen Hand in Hand, und wie sie gingen, war es herrlicher Frühling mit Blumen und mit Grün; die Kirchenglocken läuteten, und sie erkannten die hohen Türme, die große Stadt, es war die, in der sie wohnten, und sie gingen in dieselbe hinein und hin zu[311] der Thür der Großmutter, die Treppe hinauf, in die Stube hinein, wo alles wie früher auf derselben Stelle stand. Die Uhr sagte: »Tick! tack!« und die Zeiger drehten sich; aber indem sie durch die Thür gingen, bemerkten sie, daß sie erwachsene Menschen geworden waren. Die Rosen aus der Dachrinne blühten zum offenen Fenster herein, und da standen noch die kleinen Kinderstühle. Karl und Gretchen setzten sich ein jeder auf den seinigen und hielten einander bei den Händen; die kalte, leere Herrlichkeit bei der Schneekönigin hatten sie gleich einem schweren Traum vergessen. Die Großmutter saß in Gottes hellem Sonnenschein und las laut aus der Bibel: »Werdet Ihr nicht wie die Kinder, so werdet Ihr das Reich Gottes nicht erben!«

Karl und Gretchen sahen einander in die Augen, und sie verstanden auf einmal den alten Gesang:


»Rosen, die blühen und verwehen,

Wir werden das Christkindlein sehen.«


Da saßen sie beide, erwachsen und doch Kinder, Kinder im Herzen; und es war Sommer, warmer, wohlthuender Sommer.

Quelle:
Andersen, H[ans] C[hristian]: Sämmtliche Märchen. Leipzig 31[um 1900], S. 308-312.
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