Sie singt dem heiligen Geist einen schönen Lobgesang

[339] 1

Du süße Taube, heilger Geist,

Der du zu uns kommst hergereist

Vom Vater und vom Sohne,

Dir soll jetzt durch des Mundes Klang

Erschalln meins Herzens Lobgesang

Vor deiner Gottheit Throne.

O süße Taube, heilger Geist,

Sei ewiglich von mir gepreist.


2

Du bist, der ob den Wassern schwebt,

Der Herr, durch welchen alles lebt,

Der alls Geschöpf beseelet.

Durch dich ist aller Himmel Pracht

Und ihre ganze Kraft gemacht,

Du hast sie ausgehöhlet.

O süße Taube, heilger Geist,

Sei ewiglich von mir gepreist.
[339]

3

Du hast durch der Propheten Schar

Verkündiget, was künftig war,

Und Christum prophezeiet.

Du zündst auch noch auf frischer Bahn

Das Licht der Wahrheit kräftig an,

Wer nur sein Herz dir leihet.

O süße Taube, heilger Geist,

Sei ewiglich von mir gepreist.


4

Du bist der Brunn der Fruchtbarkeit,

Du hast Mariam benedeit,

Vor dir hat sie empfangen.

Durch dich ist Gottes ewger Sohn

Ein Mensch geworden und in Thron

Des Leibs der Jungfrau gangen.

O süße Taube, heilger Geist,

Sei ewiglich von mir gepreist.


5

Du hast gar huldreich dich erzeigt,

Als Christi Menschheit sich geneigt,

Die Taufe zu bekommen.

Hast auch mit deiner Süßigkeit

Auf ihm geruht zu jeder Zeit

Und ihn ganz eingenommen.

O süße Taube, heilger Geist,

Sei ewiglich von mir gepreist.


6

Du kamest wie ein starker Wind

Zu Christi heilgem Hofgesind

Und machst sie voller Wonne.

Du feurest ihre Zungen an,[340]

Sie reden Sprachen, die man kann,

So weit auch geht die Sonne.

O süße Taube, heilger Geist,

Sei ewiglich von mir gepreist.


7

Du bist der Geist der Gnad und Huld,

Du flehst in uns für unsre Schuld,

Du bist der Geist der Güte.

Du machest uns zu Kindern Gotts,

Du machst uns würdig seines Brots,

Vergottest das Gemüte.

O süße Taube, heilger Geist,

Sei ewiglich von mir gepreist.


8

Du salbest uns mit Freudenöl,

Bist Honigseim in unsrer Kehl,

Bist Trost in allen Schmerzen.

Du bist die heilge Liebesbrunst,

Die weg treibt allen bösen Dunst

Aus den zerknirschten Herzen.

O süße Taube, heilger Geist,

Sei ewiglich von mir gepreist.


9

Du bist der Strom, klar wie Kristall,

Der mit so gnadenreichem Fall

Jerusalem erfreuet.

Du strömest wie ein Harfenton

Aus Gottes und des Lammes Thron,

Durch dich wird alls verneuet.

O süße Taube, heilger Geist,

Sei ewiglich von mir gepreist.
[341]

10

Du bleibst bei uns in Ewigkeit,

Wirst uns bei Endigung der Zeit

Frei und lebendig machen.

Du wirst mit deiner Gottheit Schein

Uns, die wir deine Küchlein sein,

Ganz seliglich anlachen.

O süße Taube, heilger Geist,

Sei ewiglich von mir gepreist.


11

Sei doch auch mir ein süßer Gott,

Ein süßer Gott in Todesnot,

Ein süßer Gott im Leben.

Laß mich dein liebes Küchlein sein,

Führ mich in deine Gottheit ein,

Ohn End ob mir zu schweben.

Daß du werdst ewiglich gepreist,

O süße Taube, heilger Geist.

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 339-342.
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