Die Geschichte von Abu al-Hasan oder dem erwachten Schläfer

[322] Ich vernahm, o glücklicher König, daß einst in Bagdad unter dem Kalifat Harun al-Raschids ein Mann und Kaufmann lebte, der einen Sohn namens Abu al-Hasan-al-Khalia1 hatte. Als der Kaufmann starb, hinterließ er seinem Erben großen Reichtum, den dieser in zwei gleiche Hälften teilte, von denen er die eine beiseite legte, während er die andere verbrauchen wollte. Und er begann mit Persern und mit den Söhnen der Kaufleute zu verkehren und ergab sich dem guten Wein und der guten Speise, bis sein Reichtum ausgegeben und verschwendet war. Da begab er sich zu seinen Freunden und Zechgenossen und legte ihnen seine Not dar, indem er ihnen entdeckte, daß alles, was er an Reichtum in Händen gehabt hätte, daraufgegangen wäre. Aber keiner von ihnen achtete seiner oder gab ihm auch nur eine Antwort. Und er kehrte zu seiner Mutter zurück (und wahrlich, er war gebrochenen Herzens) und erzählte ihr, was ihm widerfahren war und was er erlebt hatte mit seinen Freunden, deren keiner mit ihm teile oder ihm auch nur durch ein Wort vergelte. Sprach sie: ›O Abu al-Hasan, so sind die Söhne dieser Zeit; wenn du etwas hast, so kommen sie herbei; und hast du nichts, so stoßen sie dich beiseite.‹ Und sie tröstete ihn, während er sich beklagte und ihm die Tränen rannen. Und er sprang auf und ging dorthin, wo er die zweite Hälfte seiner Habe verborgen hatte, und er nahm sie und lebte behaglich damit; und er schwor, daß er nimmer wieder mit einem einzigen verkehren wollte von denen, die er gekannt hatte, sondern daß er sich nur noch dem Fremdling gesellen und auch ihn nie länger als eine einzige Nacht bewirten wolle, um ihn, wenn der Morgen käme, nicht mehr zu kennen. Er setzte sich also jeden Abend auf die Brücke, die über den Tigris führt, und[323] sah einen jeden an, der vorüberkam. Und wenn er sah, daß es ein Fremdling war, so schloß er Freundschaft mit ihm und nahm ihn mit in sein Haus, wo er sich die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen mit ihm unterhielt und mit ihm zechte. Dann aber schickte er ihn fort und nahm sich vor, ihn nie mehr mit dem Salam begrüßen noch sich ihm zu nahen, und nie wieder lud er ihn ein. In dieser Weise lebte er ein volles Jahr, bis eines Tages, als er wie immer auf der Brücke saß und harrte, wer da vorüberkommen würde, daß er ihn mitnehmen und die Nacht mit ihm verbringen könnte, siehe, der Kalif erschien, begleitet von Masrur, dem Träger des Schwertes seiner Rache; und sie waren ihrer Sitte gemäß als Kaufleute verkleidet. Abu al-Hasan sah sie an, und da er sie nicht kannte, stand er auf und fragte sie: ›Was sagt ihr? Wollt ihr mit mir gehen in mein Haus und essen, was bereitsteht, und trinken, was zur Hand ist, nämlich Brot, gebacken in einer Schüssel, und gekochtes Fleisch und geklärten Wein?‹ Der Kalif verneinte, er aber beschwor ihn und sprach: ›Allah sei mit dir, o mein Herr, geh mit mir, denn du bist heute nacht mein Gast, mache nicht die Hoffnung zuschanden, die ich auf dich setzte.‹ Und er ließ nicht ab, ihn zu drängen, bis er bereit war. Des freute Abu al-Hasan sich, und er ging vor ihnen her und plauderte mit ihnen, bis er sein Haus erreichte, wo er den Kalifen in seinen Saal geleitete. Und Al-Raschid trat ein in einen Raum, und hättest du ihn gesehen und seine Wände angeschaut, du hättest Wunder erblickt; und hättest du die Wasserrohre genau betrachtet, du hättest einen goldenen Brunnen gesehen. Der Kalif ließ seinen Begleiter an der Tür, und als er saß, brachte ihm sein Wirt zu essen; er aß also, und mit ihm aß Abu al-Hasan, auf daß es ihm schmeckte. Dann trug er den Tisch wieder ab, und sie wuschen sich die Hände, und der Beherrscher der Gläubigen setzte sich wieder. Abu al-Hasan trug das Trinkgerät auf, setzte sich ihm zur Seite, schenkte ein und gab ihm zu trinken, indem er ihn mit Reden unterhielt. Und als sie genug getrunken hatten, rief der Wirt nach einer Sklavin, die da einem Weidenzweige glich; und sie ergriff eine Laute und sang zu ihr. Seine Gastfreundschaft aber gefiel dem Kalifen, der zu ihm sprach: ›O Jüngling, wer bist du?[324] Mache mich bekannt mit dir, auf daß ich dir deine Güte vergelten kann.‹ Abu al-Hasan aber lächelte und sprach: ›O mein Herr, ferne sei es, daß wiederkehre, was vergangen ist, und daß ich mich dir noch einmal geselle!‹ Fragte der Fürst der wahren Gläubigen: ›Weshalb? Und weshalb willst du mich nicht bekannt machen mit deinem Lose?‹ Versetzte Abu al-Hasan: ›Wisse, o mein Herr, meine Geschichte ist seltsam, und all dies hat seinen Grund.‹ Fragte Al-Raschid: ›Und welches ist der Grund?‹ Versetzte er: ›Der Grund hat einen Schwanz.‹ Über diese seine Worte lachte der Kalif, und Abu al-Hasan fuhr fort: ›Ich will dir dieses Wort erklären durch die Geschichte vom Strolch und dem Koch. Höre also, o mein Herr.

Fußnoten

1 Al-Khalia = der Schalk.


Quelle:
Die schönsten Geschichten aus 1001 Nacht. Leipzig [1914], S. 322-325.
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