II

[297] Als der Kaplan von seinem Morgenspaziergange nach dem Pfarrhofe zurückgekehrt war, hatte er in aller Gemächlichkeit begonnen, seine Habseligkeiten einzupacken; dabei verqualmte er eine ganz erstaunliche Menge Tabaks, nicht aus seiner Stummelpfeife, die ihn nur auf seinen Ausflügen begleitete, sondern aus einer mit einem langen Rohre, und er ward ihrer nicht überdrüssig, obgleich sie ihn in seiner Beschäftigung behinderte, und er verlor nicht die Geduld, wenn sie auch regelmäßig, sooft er sich bückte oder niederkniete, den Tonkopf gegen den Boden stemmte und ihm den Federkiel in den Rachen stieß.

Seine Insektensammlung hatte er in zwei großen Kisten untergebracht und auf deren Deckeln mit ungefügen Strichen eine Flasche und die Worte »nicht stürzen« hingepinselt, seine Kleidungsstücke und Bücher lagen in einem Koffer unter Verschluß; es blieb ihm nur noch übrig, all jene teils nützlichen, teils notwendigen Gegenstände unterzubringen, die zwar einen sehr kleinen Raum einnehmen, aber für den augenblicklichen Bedarf im Hause wie auf der Reise eine desto größere Rolle spielen.

Als er aus einem Schranke ein Handkofferchen hervorzog, raschelte es im Innern; und als er auf- schloß, lag eine Photographie auf dem Boden, das Brustbild eines Bauernmädchens,[297] mit reichem Haar unter dem Kopftuche und kleinen blinzelnden Äuglein über dem Stumpfnäschen in dem vollen, runden Gesichte. Das Bild hatte durch Zeit und schnöde Behandlung arg gelitten, es war verblaßt und zeigte Fingerabdrücke. Der Kaplan griff das Blättchen auf und machte eine Bewegung, als wäre er willens, dasselbe in die Zimmerecke zum Kehricht zu werfen, aber er besann sich anders und legte es an seine Stelle zurück. »Dumms Dirndl«, schmunzelte er, »wär eine schöne Dummheit gewesen, wenn du damal dein Willen ghabt hättst, freilich, könntst 'n seither mit andern ghabt habn – ging mich nix an –, aber ich hoff zu Gott, daß du heuttags auch wo als rechtschaffene Bäuerin sitzst und dir ebensowenig vorzwerfen hast.«

Bedächtig griff er nun von den zurechtgelegten Stücken das eine um das andere auf, brachte es in das Kofferchen, reihte aneinander und schichtete übereinander, und als er damit zu Ende gekommen, klappte er zu und sperrte ab. Er atmete auf, streckte sich und trat an den Tisch, um sich eine frische Pfeife zu stopfen, die wievielte, wußte er selbst nicht, aber es machte ihn doch bedenklich, als er im Tiegel den Tabak bis auf einen geringen Rest dahingeschwunden sah; doch mit dem Gelöbnisse, daß es für heute die letzte sein solle, überwand er das Zögern und langte zu; dann setzte er sich in den Lehnstuhl, der an dem offenen Fenster stand, und sah hinaus in die Gegend. Geflirre, Gezwitscher und Gesang der Vögel war verstummt, es war Abend geworden. Ganz in der Ferne verlor sich das Tal unter einem leichten, fahlen Flor; graue Wolken standen über diesem, und ein schmaler, lichter Saum verriet, daß hinter ihnen die Mondsichel aufsteige. In der Abendglut aber leuchteten die kahlen Schroffen, lagen die Wälder in goldigbraunem Dufte und brannten ganz nahe die Fenster einzelner Hütten des Dorfes. Feierliche Stille lag über dem allen.

Doch Friede ist nicht in der Natur. Wohl uns, daß wir kein Auge dafür haben, wie nicht für die Dauer eines Atemzuges, eines Herzschlages die bildenden und zerstörenden[298] Kräfte ihre Betätigung aussetzen, daß wir in glücklicher Blindheit nicht sehen, wie kein Hauch verweht, kein Pulsschlag verrollt, ohne daß zahllose Wesen unter den Qualen des Werdens sich krümmen oder unter den Schrecken der Vernichtung vergehen! Nur die Menschenseele hat die Empfindung tiefen Friedens, selten und für kurze Zeit; sie wird ihn, der Verheißung nach, für immer haben, wenn die Brust über dem Herzen eingesunken sein wird, ob aber auch dann die Empfindung?

Der alte Mann, der da im Lehnstuhle saß, hatte sie in diesem Augenblicke voll und ganz, durch keine Frage, keinen Gedanken abgelenkt, durch keinen Schmerz, keine Leidenschaft beirrt, durch keine Erinnerung, keine Furcht getrübt. Ruhige Atemzüge hoben und senkten seine Brust, ganz im Schauen aufgegangen, genoß er rein das Gefühl des Seins, wo wir, des eigenen Selbst vergessend, plötzlich mit der Selbstlosigkeit des großen Ganzen in Harmonie treten und auch, aller Widersprüche bar und ledig, in dem Anblicke seiner größten wie seiner kleinsten Bilder sinnenden Auges uns verlieren.


Der Klang der Abendglocke schreckte den Kaplan auf, er stieß einen tiefen Seufzer aus und rieb sich die Stirne; ein grämlicher Zug überflog sein Gesicht, offenbar besann er sich auf etwas, das ihn gerade nicht angenehm berührte. Er erhob sich rasch, wechselte den Rock, verließ seine Stube, und nach wenigen Schritten über den breiten, aber kurzen Gang stand er vor einer Türe, an welche er pochte.

Innen blieb es stille.

Der Pfarrer lehnte am Fenster und sah in die Ferne, wo einzelne Gipfel eines Gebirgszuges hinter den Bergen, welche das Tal einschlossen, emporragten und, vor der scheidenden Sonne stehend, sich dunkel und scharf umgrenzt am Himmel abhoben. Schon vorhin, als er noch mit hastigen Schritten das Zimmer durchmaß, war ihm die eine Höhe aufgefallen, die zwei stumpfe, weit auseinanderstehende Zacken[299] zeigte und aussah, als hätte der Berg einst mächtige Hörner getragen und die wären ihm abgesägt worden. Er kannte den Berg; an dessen Fuße mußte das Dörfchen Gutenhofen liegen, dort wußte er eine ärmliche Hütte mit einem dürftigen Gärtchen, in welchem mehr Klette als anderes wuchs, und daran floß der klare Bach vorbei. Er fand oft den Weg dahin, der Straße nach, in Staub und Sonnenbrand, dem Wasser entlang und über dasselbe hinweg, in der Abendkühle und wenn die Steine, die man trockenen Fußes beschritt, im Mondlichte glänzten. – Das alte Weib war gestorben, zur Vordertüre trug man sie, das Tote, aus der Hütte hinweg, und durch die Gartenpforte ...

Der Pfarrer schüttelte mit dem Kopfe und streckte die Hände vor sich, als wollte er etwas abwehren. »Apage!« murmelte er. Er horchte auf, es pochte, und froh der willkommenen Störung, rief er ein kräftiges »Herein!«

»Guten Abend, Herr Konfrater«, sagte der Kaplan. »Ich bitt um Entschuldigung, falls ich belästig. Ich komm nur Abschied nehmen; ich hab mir gedacht, es ist besser, ich mach das heut noch spät ab, morgen früh dürft eben zu früh sein.«

»Wollen Sie Platz nehmen«, sagte der Pfarrer, indem er nach einem Stuhle deutete und sich selbst niederließ. Eine Weile saßen sich die beiden Männer schweigend gegenüber.

»Daß Sie den Entschluß gefaßt haben, sich zur Ruhe zu setzen, kann ich nur billigen«, hob der Pfarrer an. »Es bricht jetzt eine Zeit herein, wo es nach außen eines wahren Kampfeifers bedarf, um die Kirche gegen Anfechtungen zu schützen, und nach innen einer eisernen Strenge, um das festzuhalten, was sie unter den Händen hat. Nun scheinen mir aber Kampfeifer und Strenge nicht Ihre Sache zu sein!«

»Nein, das weiß Gott«, sagte der Kaplan, »wo sich was nit im guten richten laßt, bin ich nit der Mann dazu.«

»Ei, ei, so eingenommen für Milde und Nachsicht?« Der Pfarrer hob drohend den Finger, es sollte wie schalkhaft aussehen. »Am Ende benötigen Sie selbst derselben?«

»Wer denn nit? Jeder hat so seine Schwächen, aber ich[300] hoff, mein bissel Viehersammeln – ich tu s' ja nit martern – und das saker ... das Rauchen, halt das Rauchen, das rechnet mer unser Herrgott wohl nit für Sünd an.«

»Das hoff ich auch, habe mir ja nur einen Scherz erlaubt; jedoch im Ernst gesprochen, Gott mag Barmherzigkeit üben, dem Menschen geziemt es, strenge zu sein gegen sich und andere. An sich selbst lernt man das Bedürfnis nach Strenge fühlen, an sich selbst die Heilsamkeit derselben erproben. Ich habe mich einst ganz in die Hände der Obern gegeben, und sie haben mich in eine harte Schule geschickt, als Missionär nach einem anderen Weltteile.«

»Oh, so weit herumgewesen in der Welt, Herr Amtsbruder?«

»Ja, ich habe jahrelang im Sonnenbrande Afrikas den Wilden das Evangelium gepredigt; bin noch nicht gar so lange Zeit von dort zurück.«

»Ei, du mein, da ist mer halt doch ganz ausm Alten heraus, und es heißt, sich erst wieder drein eingwöhnen; ich geb zu, einige Wildling sein schon auch da, aber es dürft wohl anders mit sö umzgehn sein wie mit Wilde.«

»O ja, mit mehr Strenge! Die Wilden sind wie große Kinder, und es ist ganz merkwürdig, zu sehen, welche Einwürfe und Ausflüchte der Erbfeind den kindlichen Seelen zubläst, um sie gegen das Heil mißtrauisch zu machen und zu verhärten, aber am Ende bleiben sie doch Kinder und sind mit einigem Ernste eines Besseren zu belehren; hier aber habe ich es nicht mit Kindern, sondern mit großen Leuten zu tun, durch die Taufe in die Gemeinschaft der heiligen Kirche aufgenommen und von klein auf in deren Heilswahrheiten unterrichtet, und treffe ich darunter welche, die zu eigenem und fremdem Verderben sich gegen ihr Gewissen setzen und das anderer irreführen, dann bin ich der Mann dazu, der sie entweder zurecht- oder der Gemeinde aus den Augen bringt, und damit tu ich nur, was man von mir erwartet, denn meine Gesinnung war bekannt, eh man mich auf diesen Posten stellte.«[301]

»No ja«, seufzte der Kaplan, »ich merk schon, daß schärfer dreingangen werdn soll, das ist beschlossene Sach, und da hilft kein Reden; aber ich kann mer nit helfen, ein kleins Übergangl tat halt doch dazu not, wann das so auf ein Ruck kommt, das vertrutzt und verstockt die Leut, und der Herr Konfrater soll halt nit gleich brechen wollen, was nit auf der Stell biegen mag. Bsonders für zwei hätt ich gern ein gut Wörtl einglegt: Da ist der Bursch, den s' 'n Einsam nennen, jo mein, der laßt sich, wie er ist, nit so leicht um 'n Finger wickeln, da braucht's bevor schon a Zeit und Weil, bis mer 'n weich macht, und da ist noch der Schneider-Tomerl, der Sohn vom Flickschneider, gar ein armer Teufel, der ledig mit einer Dirn lebt, Not und Elend im Haus und ein kleins Kind dazu; ja, daß s' nit hätten zsamm sollen, das haben die zwei von Anfang an gwußt, das werfen sie sich heut gegenseits vor, und morgn will wieder keins vom andern lassen; der Jammer hat den Leuten ganz den Kopf verwirrt, will mer s' zsammhaben, so wolln s' auseinander, will mer s' auseinander, so wolln s' zsammbleiben, da möcht halt auch ein blind Dreinfahren leicht vom Übel sein, und mein Denken war, man wart zu, bis das Kleine ein bissel dreinplappern kann, dann ist man doch zwei gegn zwei, und redt sich leichter, wenn man dem sein Sach führt.«

»Das taugt nicht, Herr Konfrater«, rief der Pfarrer, »das taugt in Ewigkeit nicht, durch Zuwarten wird Ärgernis alt und übles Beispiel mächtig! Es ist leider nur zu lange zugesehen worden, und ich fühle mich verpflichtet, dem ein Ende zu machen, und werde ohne Zögern den beiden Burschen den Daumen aufs Auge drücken; der eine soll sich entschließen, zu leben, wie es unter Christenmenschen der Brauch ist, der andere soll die Dirne zu Ehren bringen, oder er soll sie lassen! Was etwa aus den beiden werden mag, wenn sie sich nicht fügen und vom Orte müssen, darüber habe ich nicht zu grübeln.«

Der Pfarrer erhob sich, der Kaplan, der seinem Beispiele folgte, trocknete sich mit einem bunten Sacktuche den Schweiß[302] von der Stirne. »No, nit für ungut«, sagte er mit vor Erregung zitternder Stimme, »daß ich mir überhaupt erlaubt hab, etwas zu bereden, aber ich wollt nit damit zurückhalten, weil ich gmeint hab, mein Wort, als von einm, der lang gnug hierorts war, um sich auszuwissen, dürft nit zu verachten sein, und weil ich darauf bedacht war, Unheil zu verhüten, das ich möglich kommen seh, wann ...«

»Kein Wort weiter in der Sache, Herr Kaplan«, unterbrach ihn der Pfarrer, »ich handle, wie mir Pflicht und Gewissen vorschreiben, und übernehme vor Gott die Verantwortung!«

»No, so empfehl ich mich halt, Herr Pfarrer, gehorsamer Diener!«

»Glückliche Reise! Noch eins ...«

Der Kaplan blieb, die Hand an der Klinke, stehen.

»Da Sie nach der Stadt übersiedeln, so dürfte es Sie wohl nur wenig beschweren, wenn ich Sie ersuche, dort nach einer Person zu forschen, die seit Jahren für mich verschollen ist.«

»Gern, bitt mir nur 'n Namen zu sagen und was ich sonst etwa zu wissen nötig hab.«

»Hm ja«, dehnte der Pfarrer, er blickte nach dem Fenster, außen war düstere Nacht geworden, rings waren Wolken aufgestiegen, und der Berg mit den Hörnerstumpfen war verschwunden. »Wir sprechen noch darüber«, sagte er kurz.

»Es ist wenig Zeit mehr.«

»Ich kann ja auch schreiben.«

»Nun, ist recht. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Kopfschüttelnd ging der Kaplan nach seiner Stube. »Vor Gott übernimmt er die Verantwortung!« murmelte er. »Die vor Menschen liegt doch näher; ich möcht nix vorm lieben Herrgott zu vertreten haben, was ich nit vor d' Menschen kann!«

Bald stand der Pfarrhof im Dunkeln, alle Lichter waren verlöscht und die Inwohner zur Ruhe gegangen. Der Pfarrer lag in tiefem, ruhigem Schlafe, und nur ein paar Schritte davon, in der Stube nebenan, quälten den Kaplan böse Träume –[303] er sah den gehetzten »Einsam« wie ein wildes Tier in das friedliche Tal einbrechen – auf einer endlos langen Straße ging der Schneider-Tomerl dahin und schlug mit seinem Wanderstecken nach großen, runden Kieseln, die am Wege lagen, wie auf geschorene, harte Pfaffenschädel, und bei dem einen Streiche rief er »just nit«, bei dem andern »zu Trutz« und »zwingen nit« – und weit unten, dort, wo sich der Bach ober der Mühle stauet, da fischten die Leute mit Stangen und Seilen den Leichnam einer Dirne aus dem Wasser, an deren Brust ein fahles, totes Kind angeklammert lag.

Er hatte eine recht unruhige Nacht, der gute, alte Mann.

Quelle:
Ludwig Anzengruber: Werke in zwei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21977, S. 297-304.
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