In der Osternacht

[52] 1881.


Süß duftet und leise athmet

Draußen die Osternacht,

Ruhig träumen die Gassen,

Vom blauen Monde bewacht.


Die dürren Zweige der Linde

Wiegen und schwanken im Wind,

Und durch die schauernden Lüfte

Das Blut des Frühlings rinnt.
[52]

Die Glocken tönen und läuten

Leise ins stille Gemach,

Sie läuten und rufen den Frühling

Im klopfenden Busen wach.


Und von den Blättern der Bibel

Hebe ich träumend mein Haupt, –

Und schaue des Heilands Augen,

Den längst ich gestorben geglaubt.


Ich sehe die rothen Wunden

Und den bleichen, friedlichen Mund,

Und um die Schläfe geflochten

Der Dornen blutigen Bund.


Ich trinke von seinen Augen

Der Thränen schmerzliche Glut, ...

Und fühle, wie sanft seine Rechte

Auf meinem Haupte ruht ...


Unnahbar unendliche Gottheit,

Sind's wilde Schmerzen allein,

Die von dir reden und zeugen

Und deinem göttlichen Sein?


Sind's nur die Schauer des Todes,

Aus denen dein Mund uns spricht,

Und strahlt nicht auch leuchtend im Frühling

Dein himmlisches Angesicht?


Die Glocken tönen und läuten,

Es webt und quillt in der Luft,

Rings flüstert ein süßer Zauber,

Und strömt ein Rosenduft.


Durch meine Seele ergießt sich's

Wie lodernder Rosenschein ...

Du süße, du schöne, du hohe

Geliebte, da dachte ich dein!

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 52-53.
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