272.

[88] Diejenigen, welchen der Tod nahe ist, gehen drei Tage vor dem Sterben, als Geist, nach dem Kirchhofe, um sich dort ihre Grabstätte auszusuchen. Nur Sonntagskinder und besonders Auserwählte besitzen, als angeborne Gabe, die Fähigkeit solche Geister zu sehen. In Hagenow gab es eine Frau, Aleita Wilken, der, ihrer eigenen Ueberzeugung nach, diese Gabe verliehen war. Ihre erste Vision war gewesen, als sie, ungefähr zwölf Jahre alt, im Elternhause eines Abends auf der Diele einen offenen Sarg erblickte mit der Leiche ihres Vaters darinliegend. Als sie, voll Schreck, dies ihrer Familie erzählen wollte, hieß man sie schweigen und ein Vaterunser beten. Am dritten Tage hiernach starb der Vater. Seit dieser Zeit sah sie nicht allein die vorerwähnten Geister, sondern auch die gespenstischen Leichenzüge, die, nur meistens ungesehen, jedem Todesfalle voraufgehen. Sie war einst auf der Straße einem solchen Leichenzuge begegnet und ihm ausgewichen, während ihre neben ihr gehende Nichte, die nichts von der Erscheinung sah, mitten durch den Zug und über den Sarg hinweg ging, ohne etwas Anderes zu bemerken, als daß sie heftig stolperte.

Eine andere Art Vorahnung besteht darin, daß die damit Begabten ungefähr neun Tage vor dem Tode einer Person um den Kopf derselben einen leichten, grauweißen Nebel erscheinen sehen, der von Tag zu Tag sich mehr verdichtet, bis er einem weißen Schleier gleicht, der den Kopf umhüllt. Dann ist die Todesstunde gekommen. Diejenigen, welche dies sehen, sind zugleich durch innere Nothwendigkeit[88] gezwungen, solche Wahrnehmung irgend Jemandem mitzutheilen. Der Amtmann M. ließ seine älteste Tochter, die gesund und munter war, verreisen, um Verwandte zu besuchen. Eine Frau, welche sah, wie das junge Mädchen in den Wagen stieg, rief aus ›Diese Tochter werden die Eltern nicht wiedersehen!‹ Man glaubte ihr nicht. Nach wenigen Tagen kam die Nachricht, das junge Mädchen sei erkrankt. Sie starb, bevor die Eltern sie wiedergesehen.

Andere Arten von Vorahnungen, welche genau mit demjenigen übereinstimmen, was als das ›zweite Gesicht‹ schon anderweitig bekannt ist, sowie auch verschiedene Erzählungen von Doppelgängern und von der Wirkung, welche durch lebhafte Gedanken einer Person auf Entfernte ausgeübt wird, übergehe ich hier, weil diese Art des Aberglaubens in Hagenow nicht abweicht von den auch anderswo zum Theil noch gangbaren und allgemein bekannten Vorurtheilen.


Aus Hagenow. Fräulein Krüger.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 2, Wien 1879/80, S. 88-89.
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