Erste Szene.

[289] Die Rätin sitzt am Tisch bei der Arbeit. Rat Zabern daneben. Cäcilie strickt, Badkommissär Sittig sitzt neben ihr und liest die Zeitung.


SITTIG lesend. »Und so hat denn das Juste-Milieu fast alle seine Anhänger verloren –«

RAT. Schade um das Juste-Milieu! Es war eine schöne Erfindung.[289]

SITTIG. Herr Rat, diese Ansicht kann ich nicht teilen.

RAT. Ich weiß, Sie sind ein Radikaler, aber Sie werden einsehen lernen –

RÄTIN. Zankt ihr schon wieder? Was radikal! Ich bitt' euch, bleibt mir mit der Politik vom Leibe. Nicht wahr, Cäcilie? Lesen Sie weiter, lieber Sittig.

SITTIG. Nun kommen die Notizen.

RÄTIN. Die sind mir das Liebste.

SITTIG liest. »Witterungskunde« –

RAT. Wird überschlagen.

SITTIG wie oben. »Unglücksfälle« –

RÄTIN. Davon will ich nichts hören.

SITTIG wie oben. »Neuangelangte Badegäste. Nachtrag vom 13ten. Minister von Birken, mit Familie; Geheimer Sekretär von Auerhahn; Frau Katharine von Rosen –«

CÄCILIE. Wer ist das?

SITTIG. Eine hübsche Frau. Sieht nach der Uhr.

CÄCILIE. So?

RAT. Ja, das ist wahr. Ich habe sie gesehen.

RÄTIN. Sie, Herr Gemahl?

RAT. Und gesprochen. Sie kredenzte mir gestern einen Becher am Brunnen. Ein munteres, gesprächiges Weibchen.

RÄTIN. Das ist wohl dieselbe, Cäcilie, die ganz allein mit einem Mädchen reist?

SITTIG. Allerdings, gnädige Frau. Sie ist eine Künstlerin. Sie malt ganz vortrefflich.

CÄCILIE. Sie haben sie vermutlich auch gesprochen?

SITTIG. Als Badekommissär muß ich –

RÄTIN. Ein Frauenzimmer, welches ohne Mann in dieses Bad kommt – was sagst du, Cäcilie?

CÄCILIE. Sie ist eine Künstlerin, Mama!

RÄTIN. Eine reisende Malerin? Es klingt doch immer ein bißchen abenteuerlich.

SITTIG. Ich glaube, Sie irren, meine Damen. Frau von Rosen scheint ein sehr sittsames, wohlerzogenes Frauenzimmer.

RAT. Ja, ja, das ist sie. Gewiß, mein Schatz, du hast unrecht.

RÄTIN. Die Herren gleichen sich; wo einer nur ein hübsches Lärvchen sieht – nicht wahr, Cäcilie?

SITTIG. Um Vergebung! Ich meine nur, daß Frau von Rosen –

CÄCILIE. Nun, lassen wir Frau von Rosen, ich bitte, lesen Sie weiter.

SITTIG liest. »Gestern, am 15ten. Baron Ringelstern, Gutsbesitzer.«[290]

RÄTIN. Ist der auch wieder hier?

RAT. Ein medisanter Mensch!

RÄTIN. Es ist wahr, er weiß eine Gesellschaft superb zu unterhalten.

CÄCILIE. Aber sein Witz ist zuweilen zu boshaft.

RÄTIN. Du hast recht, Cäcilie.

RAT. Boshaft ist er, das ist wahr. Er hat mir einmal mit Vorsatz einen kleinen Slam vorgegeben; das werd' ich ihm nie vergeben.

SITTIG. Verzeihen Sie, Verehrte, daß ich den Baron gegen Sie alle in Schutz nehmen muß. Er ist mein Freund.

CÄCILIE. Wir können heute dem Sittig nichts recht machen, Mama –

SITTIG. Bei einigen Übertriebenheiten ist Ringelstern gewiß ein vortrefflicher Mensch. Ich achte, ich schätze ihn, ohne alle Nebenrücksichten. Übrigens ist er ein Anverwandter des Präsidenten von Stein, den wir täglich hier erwarten, und in dessen Händen meine Beförderung liegt. Mein Freund wird ohne Zweifel bei Sr. Exzellenz zu meinen Gunsten sprechen.

RÄTIN. Das ist ein anderes! Man muß die Menschen benützen, wenn sie uns auch zuwider sind.

CÄCILIE zu Sittig. Sie sehen schon wieder auf die Uhr?

SITTIG. Ich habe versprochen, Ringelstern im Badegarten aufzusuchen. Die Stunde ist beinahe vorüber. Befehlen Sie noch etwas?

CÄCILIE. Wir wollen Sie nicht aufhalten.

SITTIG. So hab' ich die Ehre – Steht auf.


Quelle:
Eduard von Bauernfeld: Ausgewählte Werke in vier Bänden. Band 1, Leipzig [o.J.], S. 289-291.
Lizenz:
Kategorien: