Schlange Hausfreund

[679] Es war einmal ein altes Ehepaar, das war sehr arm, wenn noch so fleißig, und der Mann nährte sich und seine Frau, mit der er ein kleines Häuschen nahe einem Walde bewohnte, von Waldarbeit. Er half Bäume fällen, Holz einfahren, Holz zersägen und spalten, und so sammelte er auch das Holz, das er zu seinem eigenen Gebrauche nötig hatte, im Walde und führte es auf einem Schiebekarren jede Woche ein oder einige Male heim. Das darf aber nach den Forstgesetzen nur mit dürrem Holze geschehen, frisches, noch grünendes dürfen die armen Leute nicht von den Bäumen abhauen oder mit ihren Hippen abreißen, sonst werden sie in die Waldbuße geschrieben und gestraft, und das ist ein sehr weises Gesetz, denn ohne dasselbe gäbe es schon lange keine grünenden Wälder mehr. Wie nun einmal der arme Holzhauer in den Wald kam, sah er mit großer Freude schon von weitem, daß ein starker Sturmwind in der Nacht auch von einer stattlichen Eiche einen großen dürren Ast abgebrochen und herab geworfen hatte, und wollte sich alsbald dieses Astes bemächtigen. Aber näher kommend, gewahrte der Mann mit Schrecken, daß vom Baume her nach dem Aste sich eine große Schlange ringelte, daher er zur Seite wich und sich anderes Holz sammelte. Am folgenden Tage ging der Mann wieder in den Wald, und wollte nun den Ast mit sich nehmen, aber da hatte die Schlange denselben mehrfach umschlungen, und hob ihr Köpfchen auf dem schlanken Halse ihm ganz munter entgegen, als wenn sie ohne Furcht vor ihm seine Bekanntschaft machen wollte. Leicht hätte der Mann die Schlange töten können, er durfte ihr ja nur mit dem scharfen Holzbeile, das er mit sich führte, den Kopf abhauen, allein dieser Mann war einer von den wenigen verständigen Landleuten, die in ihrem schlichten Sinne es für eine Sünde erachten, ohne Not und ohne Bedürfnis ein Geschöpf Gottes zu töten, aus reinem Frevel und Lust am Morde, wie so viele aus Unverstand, und was noch viel schlimmer und ärger ist, aus Bosheit tun. Er gab lieber den Ast auf, und suchte sich kleineres Leseholz zusammen.

Wie nun der Mann mit seinem Reisigbündel nach Hause kam, sagte er zu seiner ihm im Hofe behülflichen Frau, indem er das Holz abwarf: »Ich bringe leider den schönen[679] Ast wieder nicht mit, von dem ich dir gestern schon erzählt habe, die Schlange hatte sich ganz darum herum geringelt.«

»Geh mir mit deiner Schlange!« sprach die Frau. »Ich bin froh, daß ich sie nicht gesehen habe, ich wäre des Todes gewesen.«

Kaum hatte des Holzhauers Frau dies gesagt, so stieß sie einen gellenden Schrei aus, und sprang entsetzt zurück – denn aus dem Reisigbündel hervor kroch plötzlich die Schlange, und ihr Anblick jagte der Frau einen tödlichen Schreck ein.

»Aber liebe Frau!« rief der Mann. »Wie du dich gleich stellen kannst! Was erschrickst du denn? Es ist ja keine giftige Schlange, es ist eine unschuldige Unke, die Frösche und Mäuse frißt. Man sagt, Unken bringen Glück ins Haus, vielleicht bringt diese es uns, Zeit dazu wär' es, denn des Elendes haben wir lange genug gehabt. Man hat auch Beispiele, daß Menschen in solche Lintwürme verwandelt worden sind, welche Schätze vergruben, und nun in Schlangengestalt das gleißende Gold hüten müssen, vielleicht ist uns ein solcher Schatz beschert, wir wollen daher der Schlange kein Leid zufügen.«

Der Frau zitterten lange die Glieder, sie vermochte kaum, ihrem Manne etwas zu antworten, denn es besteht ein Widerwille der Frauen gegen die Schlangen vom Anbeginne her, die Schlange aber war gleich in das Haus geschlüpft, und hatte dort im Vorflur die Katze angetroffen, und ihr guten Tag gesagt. Die Katze hatte einen hohen Buckel gemacht und angefangen zu pfauchen, die Schlange aber hatte gezischt und den Rachen aufgerissen, was die Katze bewog, nicht feindselig gegen die Schlange vorzugehen.

»Was issest du?« fragte die Schlange. – »Ich esse Mäuse« – antwortete die Katze.

»Ich esse auch Mäuse«, sagte die Schlange.

Dieser zarte Zug übereinstimmender Neigung begütigte die Katze, und sie fragte nun die Schlange: »Was trinkst du?«

»Ich trinke Milch, wenn ich deren haben kann!« antwortete die Schlange.

»Ei ich trinke auch Milch!« sagte die Katze. »Das ist ja schön! da passen wir eigentlich gut zusammen.«

Darauf schlossen die Katze und die Schlange Frieden und Freundschaft miteinander, und die Hausfrau gewöhnte sich[680] allmählich an die letztere, und wenn sie der Katze Milch gab, so trank die Schlange, die sehr wenig bedurfte, mit der Katze aus einem Näpfchen, und die Mäuse fingen beide gemeinschaftlich weg, die Schlange die im Stalle und im Keller, und die Katze die auf dem Boden und in der Stube.

In dem Waldhäuschen aber kehrte Segen ein, seit die Schlange bei dem alten Ehepaare lebte und geduldet ward; der Tagelohn wurde dem Manne erhöht, die Waldbeeren, eßbaren Schwämme und Heilkräuter, welche die Frau sammelte und in die Stadt zum Verkaufe trug, wurden ihr viel besser, als sonst bezahlt, und so lebten die armen Leute in glücklicher Zufriedenheit, die ihnen vielmehr zum Besten gedieh, als wenn sie unversehens reich geworden wären. Am Abende, wenn die Arbeit ruhete, saßen die beiden Alten bisweilen sommers vor der Türe und winters am warmen Ofen, und die Frau spann, neben ihr saß die Katze und spann auch, aber leider keinen Faden, und die Schlange hatte Schlupfgänge, welche die Mäuse ausgearbeitet hatten, und kam herauf, und da hörten Mann und Frau zu, wie die beiden Tiere einander Geschichten erzählten, in denen Katzen oder Schlangen stets die Hauptrollen spielten. Die Schlange insonderheit war schon ziemlich alt und sehr erfahren, und konnte sehr vieles erzählen, teils was sie selbst erlebt hatte, teils was sie von ihrer Mutter und Großmutter gehört.

»Ich weiß nicht, ob du die Geschichte von jener Frau kennst«, sprach eines Abends die Schlange zu ihrer Freundin, der Katze: »welche lange Zeit eine Schlange an ihrer Brust trug?«

»Nein, die kenne ich nicht; ich werde dir sehr dankbar sein, wenn du sie mir erzählst« – antwortete die Katze, und strich sich mit ihrer rechten Pfote über den Kopf, worauf die Schlange das folgende Märchen erzählte.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Sämtliche Märchen. München 1971, S. 679-681.
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