44. Die Totenglocken zu Speier

[45] Kaiser Heinrich IV. nahm gar ein trauriges Ende; auch seine Gebeine ruhen im Dome zu Speier, aber sie kamen nicht alsbald nach seinem Tode dahin. Verstoßen von Thron und Reich, gedachte er, wie sein heiliger Vorgänger Heinrich II. die Absicht gehabt, dort im Münster zu Straßburg seine Tage zu beschließen, am Dome zu Speier einer Chorherrenpfründe teilhaft zu werden, allein da er, der den Dom gebaut und reich geschmückt, nicht, wie jener, jetzt eine Pfründe gründen und stiften konnte, so ward ihm auch solche nicht zuteil, und der Bischof Gebhard, den er, der Kaiser, als solcher selbst auf seinen Stuhl gesetzt und ihn bestätigt, weigerte ihm die Aufnahme. Da erseufzte der Kaiser und sprach: Gottes Hand! Gottes Hand liegt schwer auf mir!, und zog trauernd von dannen. Und es geht in Speier die Sage, daß, als der alte Kaiser endlich arm und elend zu Lüttich an der Maas verstorben, habe die Kaiserglocke im Dome von selbst zu läuten begonnen, und alle andern Glocken haben volltönig eingestimmt in das Geläute, und das Volk sei zusammengelaufen und habe gerufen: Der Kaiser ist tot, der Kaiser ist tot, aber wo? wo ist er gestorben? Das wußte keiner. Der Bischof zu Lüttich fühlte minder hart wie der undankbare Bischof zu Speier, er ließ den Verstorbenen mit gebührenden Ehren bestatten. Aber als das der unnatürliche Sohn Heinrichs, Kaiser Heinrich V., vernahm, ward der Bischof von Lüttich verurteilt, den Sarg des Bestatteten mit seinen eigenen Händen wieder auszugraben, da der Verstorbene im Banne dahingegangen und einen Gebannten die geweihte Erde nicht decken dürfe. Da ward der tote Kaiser in seinem Sarge auf eine Insel in der Maas gestellt, und niemand wartete sein, und niemand kümmerte sich um ihn. Aber siehe, da kam ein Mönch, den niemand kannte, der fuhr hinüber auf die Insel, und betete über dem Sarge, und las Messen über den Toten, und sang ihm das Requiem, und das trieb er fort und fort, bis Heinrich V. es vernahm und den Sarg mit den Resten seines Vaters gen Speier führen ließ. Und als nun der Sarg im Königschor des Domes beigesetzt werden sollte, litt es der Bischof nicht, ehe denn der Papst zu Rom des deutschen Kaisers Überreste aus dem Banne lösete. Das währte[45] fünf Jahre; so lange blieb Kaiser Heinrichs IV. Sarg in Sankt Afras Kapelle unbeerdigt stehen. Aber den Kaiser Heinrich V. wußte Gottes Hand auch zu finden, denn er blieb erbenlos, fiel in des Papstes Bann wie sein Vater, und als er verstarb, da läutete vom Münsterturme zu Speier ein Glöcklein von selbst gar hell und schrillend – und keine andere Glocke fiel ein, und niemand wußte, warum es läute, und das Volk lief zu sammen und fragte sich untereinander: Wo wird denn einer ausgeführt, daß das Armesünderglöcklein läutet?

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 45-46.
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