674. Praga

[448] Im andern Jahre der Regierung Przemisls trat an einem schönen Sommertage die Königin Libussa an der Seite ihres Gemahls aus dem Schlosse Libin und bestieg, von ihrem Gefolge umgeben, den hohen Felsenstuhl, auf welchem schon oft der Geist der Weissagung über sie gekommen war. Von diesem auch jetzt wieder erfüllt, sprach sie die Worte: Ich erblicke im Geiste eine Stadt, deren Ruhm einst den Himmel erreicht! Dort in waldiger Gegend, dreitausend Schritte von hier, wo der Bach[448] Bruznika durch einen Graben fließt und in die Wlatawa (Moldau) fällt, dort, wo steinig und steil der Berg Petrzin emporsteigt, werdet ihr in Waldes Mitte finden einen Mann, zimmernd an der Schwelle eines Hauses, und weil auch Große ihr Haupt beugen müssen vor einer Schwelle, so werde die Stadt, die man dort erbauen wird, nach der Schwelle benannt. – Alsobald machten sich Männer auf, folgten Libussens Weissagung, da fanden sie einen Zimmermann, der fällte einen Eichbaum und richtete ihn zu, und als jene ihn fragten, was er da zimmere, so antwortete er: Prah, das ist, eine Schwelle.

An diesem Orte ward nun auf Libussas Gebot die große und herrliche Stadt gegründet, welche den Namen Praha, Praga von der Schwelle empfing.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 448-449.
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