592. Der Räuber und die zwölf Müllerstöchter.

[368] Mündlich von Kißlegg.


Im untern Windhag bei Kißlegg zeigte man früher und hie und da jezt noch eine Stelle im Walde, wo mal ein Räuber gehaust haben soll. Dieser Räuber sei ein furchtbarer Zauberer gewesen und hätte das Blut von zwölf Jungfrauen gebraucht, um seine Zauberei recht auszuüben. Anderwärts sagt man, er wäre mit einem Müller in Streitigkeit gerathen und hätte an seinen Töchtern Rache nehmen wollen. Es soll nämlich in der Gegend von Kißlegg ein Müller gewesen sein, der zwölf Töchter hatte. Der Räuber kam und holte eine nach der andern und sagte dem Müller schöne Dinge vor, bis er ihm wieder eine abtrat. Hatte er wieder eine von den Schwestern geholt, so sezte er sich mit ihr unter eine himmelhohe Tanne, flocht einen Weidenstrick, während dessen ihm die Jungfrau lausen mußte. Räuber sagte niemalen, wozu er den Strick flechte. Suchte dabei sich mit seinem Opfer auf die verschiedenste Weise zu unterhalten. Als er sich einstmalen gerade mit der Zwölften unterhielt und diese ihm lausen mußte, fiel ein Tropfen Bluts von der hohen Tanne herab ihr auf die Hand. Die Müllerstochter schaute auf und sah ihre eilf Schwestern droben hangen, an Weidenstricken hoch an der Tanne aufgeknüpft.[368] Sie that einen furchtbaren Schrei, und als der Räuber merkte, daß sie ihr Loos kenne, sagte er, sie solle sich zum Tode vorbereiten und ihr Gebetlein verrichten. Sie bat sich noch drei Bitten aus, die er sie thun lasse. Sie that drei Schreie, den einen zu Jesus, den andern zur Mutter Gottes, den dritten zum Bruder. Siehe, da kam ein Jäger mit zahllosen Hunden, ergriff den Räuber, befreite die Schwester und übergab jenen dem Blutgerichte. Der Jäger mit den Hunden war ihr Bruder301.

301

Vgl. Rochholz A.S. I. Nr. 14. S. 24. Wo auf die gewährten drei Bitten der Bruder kommt und rettet. Vgl. Kuhn, nord. Sag. Nr. 186. 279. Harrys I. Nr. 53. Dieses ist der Inhalt des sog. »Ulinger« oder »Blaubartliedes«. Vgl. Uhland I. S. 141. Nr. 74. E. Meier, Volksl. S. 296-304. Simrock, Volksl. Nr. 6 u. Nr. 7. Pfeiffers Germania 1860. S. 372, wo ich auf unser Märchen aufmerksam machte. Das Lied um Wangen und Leutkirch, ehedem beliebtes Kunkelstubenlied, konnte ich nicht mehr bekommen.

Quelle:
Anton Birlinger/ M. R. Buck: Sagen, Märchen und Aberglauben. Freiburg im Breisgau 1861, S. 368-369.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Sagen, Märchen, Volksaberglauben
Sagen, Märchen, Volksaberglauben