Das Mädchen und der Vogel

[148] Ein Vogel kam geflogen

Jüngst in mein Kämmerchen

Auf Flügeln, wie der Bogen

Der Iris, bunt und schön.


Er flog um mich im Kreise,

Und sang ohn' Unterlaß

So rührend, sanft und leise,

Als bät' er mich um was.


Er machte da sich immer

Um mich etwas zu thun,

Und ließ mich Arme nimmer,

Wenn ich allein war, ruh'n.


Bald tippt' er mir die Wangen,

Bald sang er mir in's Ohr,[148]

Bald hatt' er mit den Spangen

Am Mieder etwas vor.


Mir war sein Spiel behäglich,

Und unterhielt mich sehr;

Der Vogel wurde täglich

Mir unentbehrlicher;


Und daß ich sicher wäre,

Ihn stets um mich zu seh'n,

Stutzt' ich mit einer Scheere

Ihm beide Flügelchen.


Nun war er nur noch zahmer,

Und glücklicher sein Loos:

So oft ich rief, so kam er,

Und schlief in meinem Schooß.


Er spielte manche Stunde

Um meines Mieders Rand;

Er trank mir aus dem Munde,

Und aß mir aus der Hand.


Doch während ich ihn pflegte,

Wuchs ihm sein Flügelpaar:

Und ach! zu spät entdeckte

Ich, daß er flicke war.


Er flog vor meinem Blicke

Davon, und sang im Flieh'n;

Ich kehre nicht zurücke,

So wahr ich Amor bin!

Quelle:
Aloys Blumauer: Sämmtliche Gedichte. München 1830, S. 148-149.
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