Fünfte Szene

[66] Hinzelmann – Giesecke.


GIESECKE. Aber so laß dich doch erst mal ansehen, alter Junge! Ist es denn zu glauben? Da wohnen wir nun eine Woche in einem Hotel, und erst am letzten Tage entdecke ich, daß dieser alte Herr einmal ein kleiner Junge gewesen ist, von dem ich meine deutschen Aufsätze abgeschrieben habe! Nun lasse ich dich aber nicht wieder los. Heute Abend habe ich eine kleine Feier. Geheimnisvoll. Unter uns, es wird wahrscheinlich ein Verlobungssouper.

HINZELMANN. Was du sagst?

GIESECKE. Da mußt du dabei sein – alter Schulkamerad! Nun sag' mal, Junge, hast du dich denn an mich auch ein bißchen erinnert?

HINZELMANN. Mir kam der Name gleich so bekannt vor ... Giesecke ... Wilhelm Giesecke? ... Sollte das derselbe sein, mit dem ich auf dem grauen Kloster in Obertertia zusammen war?

GIESECKE. Bitte, – Untertertia. Bis Ober bin ich überhaupt nicht gekommen.[66]

HINZELMANN. Nun hat man sich vor vierzig Jahren zum letzten Mal in der Klosterstraße gesehen ...

GIESECKE. Als Hosenmatz hat man sich adieu gesagt, und wo trifft man sich wieder ...?

HINZELMANN. Im Salzkammergut Offen gesagt, wir hatten in der Schule keine besonderen Hoffnungen für dich. Wir glaubten eigentlich, aus dem Schlingel wird nie etwas werden.

GIESECKE. Siehst du, und nun ist doch etwas aus mir geworden. Du siehst, es geht auch ohne gefüllten Schulsack. Und wie ist es denn mit dir?

HINZELMANN. Ach, ich bin auch recht zufrieden.

GIESECKE. Was bist du denn eigentlich?

HINZELMANN. Ich bin Philologe.

GIESECKE ihn nicht verstehend. Was bist du? ... Ach so ... Philologe. Das ist so ein gelehrtes Haus – so'n Bücherschreiber.

HINZELMANN. Ja, Bücher hab' ich auch geschrieben, – und ich darf sagen, mit gutem Erfolg. Mein Erstlingswerk hat nun doch schon die zweite Auflage erlebt ... Aber meine Hauptarbeit, die kommt erst: »Die Geschichte des Volksliedes«. Da schreibe ich nun schon meine zwanzig Jahre d'ran.

GIESECKE. Zwanzig Jahre, – an einem Buch? Das muß ja so dick werden wie der Adreßkalender. Da hat man ja auf der letzten Seite schon wieder vergessen, was auf der ersten gestanden hat. Ja, gibt's denn Leute, die so was lesen?

HINZELMANN. Eigentlich ist es nur für einen ganz kleinen Kreis, – weißt du, für ein paar Gelehrte.

GIESECKE. Da werd' ich mir's auch anschaffen. Bringt denn so'n Buch was ein?

HINZELMANN. Nicht immer.

GIESECKE. Ja, wozu schreibst du's denn da erst? Davon kannst du doch nicht leben.

HINZELMANN. Ach, glaube nicht, daß ich Sorgen habe. Ich lebe in Greifswald ... da braucht man wenig ... Jahrelang habe ich der Universitätsbibliothek vorgestanden ... Nun bekomme ich meine kleine Pension, und davon lebt's sich ganz gut.

GIESECKE. Da mußt du dich ja aber höllisch nach der Decke strecken. Ihm teilnahmsvoll die Hand reichend. Tut mir wirklich leid, daß ich dich so wieder finde.[67]

HINZELMANN. Was fällt dir denn ein? Du brauchst mich nicht zu bedauern. Ich besitze ja wenig, – aber ich habe viel davon. Und wer weiß, ob ich mit dir tausche. Wenn man immer nur so ins Volle greifen kann, da verliert alles seinen Reiz. Die Seltenheit, das ist die Würze der Freude. Und wer weiß, ob selbst das Reisen mich so glücklich machen würde, wenn ich's mir nicht eben nur alle vier Jahre vergönnte! Empfindest du ihn denn auch so lebhaft wie ich, – den Reisezauber?

GIESECKE. Gott, wo da der Zauber liegen soll, wenn ich vier Wochen schlechter wohnen muß als zu Haus ... das begreif' ich nicht.

HINZELMANN. Ja, du darfst eben nicht daran den ken, was dir die Reise nimmt, – sie gibt dir doch auch so viel. Mein Zimmer ist ja auch nicht so schön wie zu Haus, das Bett ist zu schmal, und die Dielen knarren, aber dafür die herrlichen Bäume vor dem Fenster! Wenn man da vor dem Einschlafen das Rauschen des Windes hört in den Zweigen, das ist wie ein Wiegenlied. Und dann morgens die Vögel! Das Geplauder, – was die sich alles zu sagen haben! – Und dann haben wir einen Hahn hier im Haus ... ich weiß nicht, ob du den Hahn schon gehört hast?

GIESECKE. Wenn einer den nicht hören sollte!

HINZELMANN. Ich sage dir, wenn der sein Kikriki hinausschmettert, das ist so melodisch, so herzerquickend.

GIESECKE. Das muß ein janz anderer Hahn gewesen sein!

HINZELMANN. Und da laß ich mich auch nicht lange mehr bitten – dann treibt's mich hinauf auf die Berge, in den flüsternden Wald hinein, und wenn ich dann so durch den stillen Morgen gehe und das Auge so offen wird für all das Schöne, – da fange ich an, ihn zu fühlen, den Reisezauber. Und alles, was noch vor kurzem mir so wichtig erschienen ist und mich so gedrückt hat, es kommt mir auf einmal so kleinwinzig vor, von da oben. Wie vergessen und verschollen ist alles, was da unten liegt. Ich kann mich nicht mehr besinnen, welchen Wochentag wir haben und welches Datum – und wenn mich einer fragen sollte: »Ja, sind Sie denn der Herr Doktor Walther Hinzelmann, den ich zu Haus oft so grämlich gesehen habe ...?« ich glaube wahrhaftig, ich würde ihm antworten: »Sie müssen sich irren, ... das ist ein viel älterer Bruder von mir« ... und das macht alles der Reisezauber. Mußt es nur versuchen, lieber Freund! Ab links.

GIESECKE ihm nachsehend. Der versteht's besser als ich. Den nehme ich nächstes Jahr mit nach Ahlbeck.


Quelle:
Oskar Blumenthal und Gustav Kadelburg: Im weißen Rössl. Berlin 16[o.J.], S. 66-68.
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