XXXI.

[59] Wer singt cras, cras gleichwie ein Rabe,

Der bleibt ein Narr bis hin zum Grabe;

Noch größre Kapp' er morgen habe.


Ein Narr hat auf dem Kopfe und auf beiden ausgestreckten Händen Raben sitzen, welche cras schreien.


Vom Aufschubsuchen.

Der ist ein Narr, dem Gott gebeut,

Daß er sich bessern soll noch heut

Und ab von seinen Sünden stehn,

Ein besser Leben sich ersehn,

Und der nicht gleich sich bessern mag,

Nein, Frist sich setzt zum andern Tag

Und singt cras, cras! des Raben Sang,

Und weiß nicht, ob er lebt so lang.[59]

Viel Narren sind verlorn gegangen,

Die allzeit: Morgen! Morgen! sangen.

Was Sünd' und Narrheit sonst angeht,

Da eilt man zu so früh wie spät;

Was Gott betrifft und Rechtes thun,

Das schleicht gar langsam näher nun,

Dem suchen Aufschub stets die Leute.

»Morgen ist besser beichten denn heute!

Wir lernen Rechtthun morgen schon!«

So spricht gar mancher verlorne Sohn.

Derselbe Morgen kommt nimmer je,

Er flieht und schmilzt gleichwie der Schnee.

Erst wenn die Seel' nicht bleiben mag,

Dann kommt dem Morgen erst sein Tag,

Dann wird von Weh der Leib gekränkt,

Daß er nicht an die Seele denkt.

So sind auch in der Wüste vergangen

Der Juden viel; deren sollte gelangen

Kein einziger in jenes Land,

Das Gott verhieß mit milder Hand.

Wer heut' nicht fähig zur Reue ist,

Hat morgen noch mehr, was ihm gebrist.

Wen heute beruft die Gottesstimm',

Weiß nicht, ob sie ruft morgen ihm,

Drum sind viel Tausend jetzt verloren,

Die morgen sich zu bessern schworen!

Quelle:
Brant, Sebastian: Das Narrenschiff. Leipzig [1877], S. 59-60.
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Das Narrenschiff: Mit allen 114 Holzschnitten des Drucks Basel 1494
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