Joduno von Eichenwehen an Otilie Senne

[33] Meine Otilie, ich schicke dir hier eine alte Flasche Wein für deinen lieben Vater, dessen Geburtstag heute ist. Gieb ihm alle meine guten Wünsche und die Versicherung meiner Achtung mit der deinen hin, und suche, wenn du kannst, ihm einen recht fröhlichen Tag zu verschaffen. Es ist recht schön, daß ich dir zugleich schreiben kann, obschon ich lieber etwas anders tun möchte. Ich möchte lieber mit dem jungen Manne sprechen von dem ich dir schreiben will.

Du würdest die eine Lügnerin nennen, die dir sagte, Fräulein Joduno von Eichenwehen sitzt, seit drei Tagen, alle Morgen um fünf Uhr mit einem schönen Manne unter der großen Eiche, streicht seit drei Tagen mit einem zweiundzwanzigjährigen schlanken Manne durch alle Schlupfwinkel und Wildbahnen im Holze, und sie tun vertrauter als Bruder und Schwester. Es ist nun nicht anders, man mag treiben, was man will, man wird[33] verleumdet, aber immer gut ist es doch, daß alles dies wahr ist, und daß dazu noch viel, viel mehr könnte gesagt werden. Denn wenn einer unter dem Tische stäke, wo wir uns einander auf die Füße treten, und wenn einer das blaue Mal sehen könnte, das ich ihm in den Arm gekneipt habe, als er mir die Locke über dem Auge wegschnitt, die dein Vater, ich weiß nicht warum, immer die Locke der Erinnerung nannte, so würde er wunder was für eine alte Bekanntschaft vermuten.

Ich kann nun nicht anders, ich glaube nicht, daß ich ihn liebe, ich würde mich schämen, in einer Stunde mein Herz verloren zu haben. Ich vermute, daß vieles von dem Eindrucke, den er auf mich machte, dem Moment gehört, in dem er mich sah. Wenn man so wie ich von der Welt abgeschnitten lebt, und von Gestalten umringt ist, die uns nur durch angeborne Rechte beherrschen, so ist es sehr verführerisch, aus freier Wahl einem edlen Menschen gut zu sein. Ja man legt selbst Vorzüge in jeden Bessern, die ihn zum Besten erheben können. Doch verzeihe, ich spreche über einen Zustand, ohne dich erst mit seinem Entstehen bekannt gemacht zu haben, und beweise grade so, indem ich eine vermutliche Leidenschaft entschuldigen will, daß ich ganz von ihr beherrscht werde. Ach, ist es denn wahr, daß es nur die Liebe ist, die uns ganz und gar verändert, gäbe ich dir wirklich einen Beweis von meiner Schwachheit, indem ich dir einen längern Brief schreibe als je? Und wenn ich aufrichtig sein soll, so muß ich noch mehr sagen, sagen, daß ich nicht einmal wegen dir schreibe. Ich schreibe wegen ihm; der Vater ist auf der Jagd, und er hat ihm, um ihm zu gefallen, folgen müssen. Er ging mit mir im Garten, wir waren so freundlich mit einander gewesen, er hatte mir von seinem Freunde erzählt, den er über alles liebt, und ich erzählte ihm von dir, wie ich dich liebe, von meiner Mutter; ich hatte ihm gesagt, daß wir nicht so schnell bekannt geworden wären, wenn er nicht auf dem Sitze meiner Mutter gesessen und meine Erinnerung an sie so teilnehmend angehöret hätte; ich hatte ihm noch vieles, vieles zu sagen, da kam der Vater, und er ging mit ihm weg. Ich sah ihm bis zur Gartentüre nach, und glaubte, er würde gewiß noch einmal nach mir umsehen, aber er tat es nicht, das machte mich sehr traurig, warum? das weiß ich nicht. Nun ist er auf der Jagd,[34] und ich schreibe an dich von ihm, weil ich mich nicht anders mit ihm unterhalten kann, als wenn ich von ihm spreche. An ihn denken, so ganz allein an ihn denken, das kann ich nicht, es wird mir dann ganz bange. Wenn ich allein an ihn denke, so sehe ich lauter Dinge, die man nicht beschreiben und die ich nicht verstehen kann, und da wird mir so ängstlich, als guckten mich eine Menge weltfremder Menschen an und flüsterten sich in die Ohren. Aber mit dir will ich über ihn sprechen, da muß ich alles wieder erzählen, wie er kam, und wie es mir zu Mute wurde; das wird mir sehr wohltun.

Doch nun auch kein Wort mehr, bis du weißt, wer der Glückliche ist, und wie sich denn endlich einmal eine heitere Seele außer mir in die prachtvolle Residenz meiner Ahnen und vieler Uhus und Eulen hat verschlagen lassen.

Du weißt, Otilie, vor drei Tagen war ein schreckliches Gewitter, und der Vater war mit Josten auf die Jagd geritten. Er kam zurück und hatte seine Brieftasche verloren, in der unser Stammbaum ist; er kehrte also mit Josten schnell wieder um, um dies Kleinod zu suchen. Ich bedauerte ihn sehr, daß er in dem Wetter reiten wollte, und sagte ihm, er möchte den Kastellan wegschicken, und wenn der ihn nicht fände, so könne er sich ja vom Amtmann, der doch nicht wisse, was er vor Langeweile treiben soll, einen andern machen lassen. Ich glaubte nun wunder, was ich Gescheites gesagt hätte, und der Vater machte große Augen, hob die Hand in die Höh, und ich glaubte, nun würde er mich in die Wangen kneipen, und da wollte ich meine Bitte, dich zu besuchen, vorbringen. Aber, denke nur, er gab mir eine Ohrfeige. »Gänschen, einen andern machen; nein, dich und deine Mutter ausstreichen lassen.« Jost sagte: »Und so ists recht, Fräulein Claudia.« Und nun gings mit ihnen zur Türe hinaus. Ich setzte mich auf das Plätzchen im Erker, wo sonst meine Mutter saß, wie sie noch lebte und weinte. Ich dachte an sie und weinte auch. Nun ging die Sonne unter, und das Wetter zog vorüber, und ich konnte auch nicht mehr weinen. Danke doch deinem Vater, der mich die Natur lieben lehrte, der mir sagte, so wie die Sonne jeden Abend untergeht und jeden Morgen wiederkömmt, so kömmt und geht auch jeder Mensch. Man sieht ihm entgegen, man sieht ihm nach, und freut sich,[35] wenn er gut war. Ich sehe ihr nach, der lieben Mutter; o könnte ich werden wie sie, und möge man mir nachsehen wie der Sonne, die einen schönen glücklichen Tag erleuchtet hat. So stand die Szene, und ich armes beohrfeigtes Mädchen saß mitten drinne.

Der Vorhang ging auf, es pochte an und es trat ein junger Mann herein, neigte sich schnell mit dem Kopfe, nicht etwa, um eine Verbeugung zu machen, nein, um mir die Hand zu küssen. Er behielt meine Hand in der seinigen, führte mich in den Erker, setzte sich mir gegenüber, nun antwortete er mir erst auf alle meine Entschuldigungen, daß der Vater nicht dasei, und nun sollte ich kein Licht holen, er wollte die Sonne untergehen sehen, bis der Vater käme. Ich armes Mädchen tat alles, was er wollte, und wenn ich dachte, es ist doch ganz sonderbar, wie dieser Mensch sich beträgt, und sah ihn an, so mußte ich doch heimlich wünschen, ach wenn doch der Vater, wenn doch Jost, der Amtmann, ach wenn doch alle Menschen so sonderbar wären. Kaum hatte er schweigend ein paar Minuten die Gegend durchsehen und ich kein Aug von dem seinigen verwandt, so kam er mir gar nicht mehr sonderbar, er kam mir sanft, heiter und schön vor. Er entschuldigte die Eigenheit seiner Ankunft und seines Benehmens auf eine äußerst feine Weise, und ich schämte mich, als er mich hierdurch erinnerte, daß ich eigentlich hätte ungehalten sein müssen. Ach! nie ist mir eine Stunde so schnell verschwunden als die zwischen seiner Ankunft und der Rückkunft des Vaters; selbst wenn ich bei dir bin, Otilie, du mußt aber nicht böse werden, selbst bei dir flieht die Zeit nicht so. Der Vater hatte vor Freude über seinen wiedergefundenen Stammbaum ganz vergessen, was ich für nasenweise Reden geführt hatte, und sagte zu Godwi: er bedaure sehr, daß er sich so lange mit mir habe unterhalten müssen, und er müsse ihn entschuldigen, denn er könne wegen seiner Standesgeschäfte sich wenig mit meiner Erziehung abgeben. Godwi entschuldigte mich auf eine äußerst verbindliche Art; dies gehörte meinem Vater, aber ich beneidete ihn nicht, denn der Blick, den er mir zuschickte, wollte mir doch nichts anders sagen, als daß er sich lieber mit mir in Kamschatka unterhalten als mit meinem Vater in Italien langweilen möchte. Bei Tische unterhielt er meinen Vater von[36] seinen Ahnen, und sagte wohl mehr davon, als er wußte. Jost stichelte auf des Fremden Kleidung und leichtes Betragen, doch du weißt ja, wie mein Bruder ist; aber dem Vater gefällt er sehr, denn er stammt von einer alten Familie her und hat sehr viel edle Männer unter seinen Voreltern. Er wollte den andern Morgen schon wieder weg, aber sein Pferd wurde krank, und wir haben ihm schon zugestanden, daß wohl nie ein Pferd zu gelegnerer Zeit krank wurde.

Der junge Mensch ist aber bei aller seiner Leichtfertigkeit äußerst gut, und oft, wenn er neben mir geht, leicht wie ein Schmetterling, spricht aus ihm der Ernst und die Erfahrung eines Greises, so daß man glauben sollte, er heuchelte; aber dazu sind nun seine Augen wieder zu aufrichtig. Nun sieh nur, da habe ich mir es doch wieder merken lassen, daß ich ihm nicht allein hineingesehen, sondern daß ich auch darinne gelesen habe. Auch kannst du dir nicht denken, wie leutselig er ist; unsere Bauern, die ihn kaum einigemal gesehen haben, grüßen ihn schon viel lieber als Josten, der immer so grob durch sie durchreitet, als seien sie eine Herde Vieh.

Gestern abend, als ich mit ihm unter der großen Eiche saß, erzählte er mir von seinen Reisen manche rührende Begebenheit, und manchen lustigen Scherz. Und da ich ihn fragte, warum er denn immer so die Kreuz und Quer herumreite, sagte er mir mit einer Wärme, die bis in mich herüberdrang denn meine Hand lag in der seinigen, so ruhig, so aufmerksam daß ich jeden seiner Pulsschläge fühlte: »Ich liebe den Zufall überlasse mich ihm mit Sorglosigkeit; habe ich ihm nicht vieles zu danken, hat er mich nicht unter die Eiche, neben Sie, schönes Fräulein, gesetzt? Sorgenlose Freude soll mich immer begleiten, kein einförmiges Lied, nein, wie der Gesang der Vögel über uns, in den Schlupfwinkeln der Eiche, frei und ohne Fessel natürlich und genügsam. Soll ich grübeln, sinnen, kalkulieren spekulieren, solang ich froh und gut bin, solange Freude in jedem meiner Blutstropfen pocht und jede meiner Handlungen ihr Gepräge trägt? Und gut bin ich, wahrlich gut; Sie glauben mir doch, Fräulein?« Er sagte dies so rasch, und sein Blick war so sonderbar, begehrend und doch so sanft, daß ich hätte schwören sollen, er sei der nämliche, der mir meine Locke der[37] Erinnerung raubte. Ob ich aus Angst oder aus Freude und Zutrauen zu ihm sagte: ich würde nimmer froh werden, wenn ichs nicht glauben könnte, weiß ich nicht. Meine Hand konnte ich nicht mehr in der seinigen lassen. Ich glaube, ich sprach aus Zutrauen, und zog meine Hand aus Bangigkeit zurück. Wir sahen beide ein paar Minuten auf ein Fleckchen, er wurde ernst und sagte feierlich: »Fräulein! lassen Sie uns jetzt nach Hause gehen und dem Zufalle überlassen, was wir uns morgen sagen sollen; der Mensch, der vorgreift, tut vergebliche Arbeit, solange die Welt noch von selbst geht.« Wie edel war es von ihm, daß er abbrach, denn ich glaube doch, ich hatte zuviel gesagt; was meinst du, Otilie?

Mit Josten hat ers verdorben, deswegen will er fort, er soll aber erst mit deinem Vater und dir bekannt werden; dir ist er wohl nicht gefährlich, denn er ist viel zu kindisch lustig. Lebe wohl und freue dich, bald wirst du mich sehen.

Joduno

Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 2, München [1963–1968], S. 33-38.
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