5. Das Gefühl

[645] 119.

Hiemit stellen wir dem Dencken

Vom Geschmack nun auch ein Ziel,

Unsre Geister hinzulencken

Aufs empfindliche Gefühl,

Dessen Kräfte den Gedancken

Ohne Mass' und ohne Schrancken

Allenthalben, allgemein,

Und im gantzen Cörper seyn.
[645]

120.

Eines Cörpers Leichte, Schwere,

Glätte, Fest- und Flüssigkeit,

Was gefüllet ist, das Leere,

Hart und weich, lang, schmal und breit,

Was sich biegt, was stumpf, was spitzig,

Was erfüllt von Frost, was hitzig,

Naß und trocken, warm und kühl

Zeigt der Seele das Gefühl.


121.

And're Sinne können trügen;

Ihm ist minder Trug bewust.

Alles menschliche Vergnügen,

Anmuth, Wollust, Freud' und Lust

Fliessen bloß aus dieser Quelle;

Und die allerkleinste Stelle

Unsers Cörpers hat die Kraft,

Daß sie Lust der Seelen schafft.


122.

Die vier andern Sinne scheinen

Kinder des Gefühls zu seyn,

Und es wird kein Mensch verneinen,

Daß sie gegen dieses klein;

Daß die Kräfte jener Sinnen

Bloß aus dem Gefühle rinnen;

Weil ihr Ursprung und ihr Ziel

Selbst ein zärtliches Gefühl.
[646]

123.

Die so gross- als kleinen Sehnen,

Die in dem Gehirn entstehn,

Sich in tausend Zweige dehnen,

Unsern gantzen Leib durchgehn,

Und nur in der Haut aufhören;

Sind der Geistigkeiten Röhren,

Wodurch so vor Lust als Pein

Alle Cörper fühlbar seyn.


124.

Wo sich diese Röhren enden,

Trifft man kleine Wärtzchen an,

Welche man in unsern Händen

Noch am meisten mercken kann.

Hiedruch scheinen wir zu spühren:

Wenn sie was, so hart, berühren;

Biegt sich jede zarte Spitz',

Und bewegt des Sinnes Sitz.


125.

Davon kommts, wie ich ermesse,

Daß die Cörper fühlbar sind,

Wenn die Härte mit der Grösse

In dem Vorwurf sich verbindt.

Luft kann sich daher nicht fassen,

Auch sich das nicht fühlen lassen,

Was zwar hart, doch gar zu klein,

Wie gewisse Pulver seyn.
[647]

126.

Daß wir unsre Glieder regen,

Daß die Menschen Menschen seyn,

Stammet, wenn wirs recht erwegen,

Nur aus dem Gefühl allein.

Unsrer Eltern zarte Triebe

Kamen aus der Lust der Liebe,

Und der Liebe Schertz und Spiel

Ist ein kitzelndes Gefühl.


127.

Weil der Bey-Schlaf alle Theile

Zu des Kindes Wesen führt,

Wird auch jedes Glied in Eile

Aufs empfindlichste gerührt.

Dieß vermehret das Begehren,

Uns beständig zu vermehren,

Welches, wenn mans recht ermisst,

Ein besonders Wunder ist.


128.

Merckt, wozu der Sinn uns tauge!

Es ist gleichsam das Gefühl

Aller unsrer Glieder Auge,

Unsers Wohlseyns eintzigs Ziel.

Will uns Hitz' und Frost versehren;

Eilt ihr Trieb, es abzuwehren.

Unser Leib wird der Gefahr

Auch so gar im Schlaf gewahr.
[648]

129.

Daß wir Schmertzen können leiden,

Und empfindlich sind für Pein,

Lehrt uns alle Sachen meiden,

Die uns schäd- und tödtlich seyn.

Diesem Sinn' ists zuzuschreiben,

Wenn wir unversehret bleiben.

Daß man sein' Erhaltung sucht,

Ist nur des Gefühles Frucht.


Quelle:
Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Stuttgart 1965, S. 645-649.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Irdisches Vergnügen in Gott
Irdisches Vergnügen in Gott: Erster und zweiter Teil
Irdisches Vergnügen in Gott: Dritter und Vierter Teil

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Seltsame Leiden eines Theaterdirektors

Seltsame Leiden eines Theaterdirektors

»Ein ganz vergebliches Mühen würd' es sein, wenn du, o lieber Leser, es unternehmen solltest, zu den Bildern, die einer längst vergangenen Zeit entnommen, die Originale in der neuesten nächsten Umgebung ausspähen zu wollen. Alle Harmlosigkeit, auf die vorzüglich gerechnet, würde über diesem Mühen zugrunde gehen müssen.« E. T. A. Hoffmann im Oktober 1818

88 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon