Die Meise

[286] Auguste, wie fast jede Nichte,

Weiß wenig von Naturgeschichte.

Zu bilden sie in diesem Fache,

Ist für den Onkel Ehrensache.


Auguste, sprach er, glaub es mir,

Die Meise ist ein nettes Tier.

Gar zierlich ist ihr Leibesbau,

Auch ist sie schwarz, weiß, gelb und blau.

Hell flötet sie und klettert munter

Am Strauch kopfüber und kopfunter.

Das härt'ste Korn verschmäht sie nicht,

Sie hämmert, bis die Schale bricht.

Mohnköpfen bohrt sie mit Verstand

Ein Löchlein in den Unterrand,

Weil dann die Sämerei gelind

Von selbst in ihren Schnabel rinnt.

Nicht immer liebt man Fastenspeisen,

Der Grundsatz gilt auch für die Meisen.

Sie gucken scharf in alle Ritzen,

Wo fette Käferlarven sitzen,

Und fangen sonst noch Myriaden[286]

Insekten, die dem Menschen schaden,

Und hieran siehst du außerdem,

Wie weise das Natursystem. –

So zeigt er wie die Sache lag.


Es war kurz vor Martinitag.

Wer dann vernünftig ist und kann's

Sich leisten, kauft sich eine Gans.


Auch an des Onkels Außengiebel

Hing eine solche, die nicht übel,

Um, nackt im Freien aufgehangen,

Die rechte Reife zu erlangen.

Auf diesen Braten freute sich

Der Onkel sehr und namentlich

Vor allem auf die braune Haut,

Obgleich er sie nur schwer verdaut.


Martini kam, doch kein Arom

Von Braten spürt der gute Ohm.

Statt dessen trat voll Ungestüm

Die Nichte ein und zeigte ihm

Die Gans, die kaum noch Gans zu nennen,

Ein Scheusal, nicht zum Wiederkennen,

Zernagt beinah bis auf die Knochen.

Kein Zweifel war, wer dies verbrochen,

Denn deutlich lehrt der Augenschein,

Es konnten nur die Meisen sein.

Also ade! du braune Kruste.


Ja, lieber Onkel, sprach Auguste,

Die gern, nach weiblicher Manier,

Bei einem Irrtum ihn ertappt:

Die Meise ist ein nettes Tier.

Da hast du wieder recht gehabt.

Quelle:
Wilhelm Busch: Sämtliche Werke, Herausgegeben v. Otto Nöldeke, Band 6, München 1943, S. 286-287.
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