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[103] 1143. An Grete Meyer
Wiedensahl 2. Aug. 1897.
Liebe Grete!
Es war wirklich gar angenehm in diesem Münster bei euch, und ich danke dir dafür, und wenn ich's auch vermuthlich bald vergeßen muß, so werd ich's doch lange behalten – X × tausend Jahre – wie Einer sagen könnte, der auf Grund der Metempsychose phantasiert, ohne so was grad nöthig zu haben.
Am Bahnhof Stadthagen begrüßt ich Schwester Marie einen Augenblick, als sie eben einstieg nach Hannover.
Unsere Felder sind gelb geworden. Im Garten drängt alles der Reife entgegen. Eine Gurke war fast ebenso dick, wie die dickste auf eurem Markt unter den Bogen. Gestern legte sich mir auch bereits ein Spinnenfädchen quer über die Nase; ein leiser Vorspuk des kommenden Herbstes. –[103] Über Lectüre wollt ich dir ja wol nicht schreiben; nun will ich's doch einmal. Ich schlug nämlich gleich in Otte's kirchl. Kunstarchäologie nach von wegen einiger Heiliger, die uns neulich begegnet sind.
Das Glöckchen von Antonius dem Einsiedel († 361) ist das Bettlerglöckchen.
Ludger († 809) wird abgebildet mit Buch oder Kirchenmodell und zwei Schwänen.
Martin, Bischof von Tours, († 400) hat mitunter die Martinsgans bei sich. Einst hat er seine Tunika einem Armen geschenkt und hält nun eilig und vorschriftswidrig, nur mit den Episkopalien bekleidet, die Meße; der Herr aber bezeugt sein Wohlgefallen durch eine über dem Altar erscheinende feurige Kugel. – Gregor, dem Papst, dagegen erscheint bei der Meße ein blutender Christus. –
Schmeckst eppes, liebs Gredel? Also das gute alte Bild in der Martinikirche stellt doch die Meße des heil. Martin vor und nicht die Meße Gregors. Sag's weiter, bitte, daß wir treuherzig (?) genug waren, einem Malefizkirchenknechte mehr zuzutrauen als uns selber.
Von Otto kam gestern Nachricht: Mitwoch zum Pastorenschießen in Bur, dann übernacht in Bückeburg, Donnerstag hier. – Martinchen ist mit der Hand auf eine Horniße getappt. Weh thut's und schwillt, das weiß ich selber aus der Kinderzeit. Aber nach ein paar Tagen ist's wieder dünn. Wirf drum keinen Haß auf die Thierchen, denn sie stechen nie aus Bosheit, sondern bloß aus Nothwehr oder Patriotismus. –
Eben schreibt Schwester Marie eine Karte, daß sie noch heute nach Hunteburg abdampft. Dergleichen darf man wohl eine Dummherumjökelei nennen.
- Ade, meine liebe Grete! Viele herzliche Grüße an Dich und deine Eltern, auch von Tante; Anneken will die ihrigen eigenhändig bestellen.
Immer und immer dein getreuer
Onkel Wilhelm
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Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
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