Am Grab des Bruders

[78] Nach langem, langem Sehnen

An deinem Grab ich stand,

Nach vielen, bitt'ren Thränen

Sah ich dies Stückchen Land,

Das Alles kalt bedecket,

Woran voll Zärtlichkeit,

Seit Leben ihm erwecket,

Das Kind hing allezeit!


Das Kind – o, Schmerz! ich habe

Dich anders nicht gekannt,

Stiegst jetzt du aus dem Grabe,

Du hätt'st mich kaum erkannt.

Doch wie ich so hier stehe,

Wird Eins mir wunderbar,

Trotz allem Schmerz und Wehe,

Im tiefsten Innern klar.


Zu früh mir hingeschwunden

Warst du mein Lebensstern,

Nach dem in allen Stunden

Ich sah zum Himmel gern;

Sein Strahl ward meine Leuchte,

Zog meinem Geist voran,

Zum Guten, Schönen zeigte,

Zur Wahrheit mir die Bahn.[79]


Und daß in ew'ger Treue

Ihm stets gefolgt mein Herz,

Daß hier ich steh' ohn' Reue,

Dies sänftigt meinen Schmerz;

Daß tief mir im Gemüthe

Dasselbe Feuer wacht,

Das deine Brust durchglühte

Mit seltner Liebesmacht.


So fühl' ich mit Entzücken,

Stünd'st eben du vor mir,

Als Geistesschwester drücken

Würd'st du an's Herz mich dir!

Die Hände segnend breiten

Auf meine Stirne bleich,

Mich wie in Kinderzeiten

Anlächeln mild und weich. –


Muß wieder von ihm gehen,

Dem schmerzlich theuren Ort,

Doch was mir dort geschehen,

Wirkt muthig in mir fort!

Daß so du in mir lebest

Für alle Ewigkeit,

Zum Höchsten mich erhebest –

Dies ist Unsterblichkeit!

Quelle:
Luise Büchner: Frauenherz. Berlin 1862, S. 78-80.
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