Die drei Sonnen

[194] Es wallte so silbernen Scheines

Nicht immer mein lockiges Haar,

Es hat ja Zeiten gegeben,

Wo selber ich jung auch war.


Und blick ich dich an, o Mädchen,

So rosig und heiter und jung,

Da taucht aus vergangenen Zeiten

Herauf die Erinnerung.
[194]

Die Mutter von deiner Mutter –

Noch sah ich die Schönere nicht,

Ich staunte sie an, wie die Sonne,

Geblendet von ihrem Licht.


Und einst durchbebte mit Wonne

Der Druck mich von ihrer Hand,

Sie neigte darauf sich dem andern,

Da zog ich ins fremde Land.


Spät kehrt ich zurück in die Heimat,

Ein Müder nach irrem Lauf,

Es stieg am heimischen Himmel

Die andere Sonne schon auf.


Ja deine Mutter, o Mädchen, –

Noch sah ich die Schönere nicht,

Ich staunte sie an, wie die Sonne,

Geblendet von ihrem Licht.


Sie reichte mir einst die Stirne

Zum Kusse, da zittert ich sehr,

Sie neigte darauf sich dem andern,

Da zog ich über das Meer.


Ich habe verträumt und vertrauert

Mein Leben, ich bin ein Greis,

Heim kehr ich, die dritte Sonne

Erleuchtet den Himmelskreis.


Du bist es, o Wonnereiche;

Noch sah ich die Schönere nicht,

Ich schaue dich an, wie die Sonne,

Geblendet von deinem Licht.


Du reichst mir zum Kusse die Lippen,

Mitleidig mir wohl zu tun,

Und neigst dich dem andern, ich gehe

Bald unter die Erde, zu ruhn.
[195]

Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 194-196.
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