Der Prolog des Freisassen.

[111] Vers 13551–13606.


»Wahrhaftig, Junker! Du hast's brav gemacht!«

– Rief jetzt der Freisaß – »und in Anbetracht

Von Deiner Jugend hast Du fein erzählt.

Man sieht, daß Dir Gefühl und Witz nicht fehlt.

Ich muß Dich loben! Hier von uns erreicht,

Fährst Du so fort, Dich Keiner wohl so leicht

An Eloquenz. – Nun, stehe Gott Dir bei,

Daß Deine Tugend auch von Dauer sei!

Denn, was Du sprachst, war ganz nach meinem Sinn.

Bei dem Dreiein'gen! gerne gäb' ich hin

Den vollen Werth von zwanzig Pfund in Land,

Gelangte mir's auch eben in die Hand,

Wenn nur mein Sohn Dir an Verstand und Witz

In etwas gliche. – Pfui! was gilt Besitz,

Wenn einem Manne gute Sitten fehlen?

Wie mußt' ich ihn, wie werd' ich ihn noch schmälen,

Daß er Gehör der Tugend nimmer schenkt,

An Würfelspiel nur und Verschwendung denkt,

Und Alles, was er hat, verliert, verpraßt;

Mit einem Knechte lieber sich befaßt,[112]

Als mit den Edelleuten zu verkehren,

Die höflich sind und feine Sitte lehren.«


»Was« – rief der Wirth – »frag' ich nach feinen Sitten!

Verzeiht, Herr Freisaß, aber ich muß bitten,

Euch zu erinnern: ein bis zwei Geschichten

Muß Jeder hier bei Pfandverlust berichten.«


»Wohl weiß ich« – sprach der Freisaß – »was beschlossen.

Doch Herr – ich bitte – seid nicht gleich verdrossen,

Daß ich ein Wort mit diesem Mann geplaudert.«


»Frisch loserzählt! und länger nicht gezaudert!«


»Mein lieber Wirth!« – sprach er – »von Herzen gern

Will ich gehorchen. – Hört mir zu, ihr Herr'n!

In keiner Art will ich Euch widerstreben,

Soweit Verständniß mir und Witz gegeben.

Steht Gott mir bei und stimmt es Euch vergnügt,

So weiß ich, daß es gut ist und genügt.


Von edelen Bretonen ist vor Zeiten

Von Abenteuern und Begebenheiten

Manch' Lied gereimt in aller Zungenart,

Das bald zur Laute vorgesungen ward,

Bald vorgelesen, sie zu unterhalten;

Und im Gedächtniß hab' ich ein's behalten,

Das ich erzählen will, so gut ich kann.

Indeß, ihr Herr'n! ich bin ein schlichter Mann

Und bitte drum, im Voraus zu verzeih'n,

Wenn meine Rede roh ist und gemein.

Die Künste der Rhetorik kenn' ich nicht,

Und muß ich reden, sprech' ich grad' und schlicht.[113]


Auf dem Parnasso lag ich nie im Schlummer,

Nie machte Tullius Cicero mir Kummer,

Und Redefarben sind mir unbekannt.

Zwar hab' ich manche Farben an der Wand

Und oft auch Farben, die auf Wiesen steh'n,

Doch Farben der Rhetorik nie geseh'n;

Da ich mit solchen Sachen mich nicht plage.

Doch habt Ihr Lust, so hört, was ich Euch sage.«

Quelle:
Chaucer, Geoffrey: Canterbury-Erzählungen, in: Geoffrey Chaucers Werke, Straßburg 1886, Band 3, S. 111-114.
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