Ein Lied vom Reifen,

[184] d.d. den 7. Dez. 1780. Wandsbeck


Sirach C. 43. V. 21.

Er schüttet den Reifen

auf die Erde wie Salz.


Seht meine lieben Bäume an,

Wie sie so herrlich stehn,

Auf allen Zweigen angetan

Mit Reifen wunderschön!


Von unten an bis oben 'naus

Auf allen Zweigelein[184]

Hängt's weiß und zierlich, zart und kraus,

Und kann nicht schöner sein;


Und alle Bäume rundumher

All alle weit und breit

Stehn da, geschmückt mit gleicher Ehr,

In gleicher Herrlichkeit.


Und sie beäugeln und besehn

Kann jeder Bauersmann,

Kann hin und her darunter gehn,

Und freuen sich daran.


Auch holt er Weib und Kinderlein

Vom kleinen Feuerherd,

Und marsch mit in den Wald hinein!

Und das ist wohl was wert.


Einfältiger Naturgenuß

Ohn Alfanz drum und dran

Ist lieblich, wie ein Liebeskuß

Von einem frommen Mann.


Ihr Städter habt viel schönes Ding,

Viel Schönes überall,

Kredit und Geld und golden Ring,

Und Bank und Börsensaal;


Doch Erle, Eiche, Weid und Ficht

Im Reifen nah und fern –

So gut wird's euch nun einmal nicht,

Ihr lieben reichen Herrn!


Das hat Natur, nach ihrer Art

Gar eignen Gang zu gehn,

Uns Bauersleuten aufgespart

Die anders nichts verstehn.


Viel schön, viel schön ist unser Wald!

Dort Nebel überall,

Hier eine weiße Baumgestalt

Im vollen Sonnenstrahl
[185]

Lichthell, still, edel, rein und frei,

Und über alles fein! –

O aller Menschen Seele sei

So lichthell und so rein!


Wir sehn das an, und denken noch

Einfältiglich dabei:

Woher der Reif, und wie er doch

Zustande kommen sei?


Denn gestern abend, Zweiglein rein!

Kein Reifen in der Tat! –

Muß einer doch gewesen sein

Der ihn gestreuet hat.


Ein Engel Gottes geht bei Nacht,

Streut heimlich hier und dort,

Und wenn der Bauersmann erwacht,

Ist er schon wieder fort.


Du Engel, der so gütig ist,

Wir sagen Dank und Preis.

O mach uns doch zum heil'gen Christ

Die Bäume wieder weiß!

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 184-186.
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