|
Einen alten Seemann gibt's,1
der hält / Von Dreien einen an.
›Was will dein glühend Aug'
Von mir, / Graubärt'ger alter Mann?
Macht Hochzeit doch der Bräutigam;
Nah sind verwandt wir beide!
Das Fest beginnt: versammelt sind
Die Gäste; ringsum Freude!‹
Er hält ihn mit der dürren Hand:
»War stattlich einst und groß
Ein Schiff« – ›Laß los, du alter Narr!‹
Stracks ließ die Hand er los.
Er hält ihn mit dem glühen Blick;2
Der Hochzeitsgast steht stille
Und horcht ihm wie ein kleines Kind:
So war's des Seemanns Wille.
Setzt sich auf einen Stein der Gast;
Er kann nicht von der Stelle.
Und so begann der alte Mann,
Der graue Schiffsgeselle:
»Die Anker hoch, die Barke flog,3
Frisch ging es durch die Bai,
Vorbei die Kirch', vorbei den Berg,
Den Feuerturm vorbei.
Die Sonn' erhob sich aus der See;
Zur Linken ging sie auf.
Und sie schien hell, senkt' in die Well'
Zur Rechten dann den Lauf.
Und höher, höher jeden Tag,
Bis mittags überm Mast –«
Da tönt von ferne das Fagott:
Vom Sitz fährt auf der Gast.
[9] Die Braut betritt den Hochzeitssaal!4
Rot wie 'ne Ros' ist sie;
Und vor ihr gehn mit nickendem Haupt
Die lustigen Musici.
Der Hochzeitsgast fährt auf in Hast,
Er kann nicht von der Stelle.
Und so sprach dann der alte Mann,
Der graue Schiffsgeselle:
»Da kam der Sturmwind; der war stark,5
Und groß war seine Wut,
Und seine Schwingen trieben uns
Fern nach des Südens Flut.
Das Bugspriet tief, die Masten schief,
Wie wer, verfolgt mit raschem Schritt,
Noch seines Feindes Schatten tritt,
Mit vorgebeugtem Haupt:
So auf gut Glück stürmte die Brigg
Südwärts, vom Nord umschnaubt.
Und Schnee und Nebel kamen jetzt,
Die haben's kalt gemacht,
Und mastenhoch vorüberzog
Eis, grünlich wie Smaragd.
Und trüben Schein durchs Eis herein6
Warf eine schnee'ge Spalte:
Nichts sahen wir, nicht Mensch noch Tier –
Die Treibeismauer hallte.
Das Eis war hier, das Eis war dort,
Das Eis war überall;
Es türmte sich, und fürchterlich
Dröhnt' übers Meer sein Schall.
Doch endlich schoß ein Albatros7
Durch Nebel und durch Regen;
Als wär's 'ne Christenseel', so tönt
Ihm unser Gruß entgegen.
[10] Der Vogel fraß aus unsrer Hand,
Flog auf dem Deck umher;
Das Eis zerbrach mit dumpfem Krach:
Wir sind auf offnem Meer!
Ein guter Südwind tut sich auf;8
Hoch folgt uns durch die Luft
Der Vogel treu und schwebt herbei,
Wenn der Matrose ruft.
Auf Tau und Mast, da hält er Rast
Der wolk'gen Nächte neun,
Und alle Nacht durch Nebel lacht
Des Mondes weißer Schein. –
Vor bösen Geistern schütz' dich Gott,9
Du alter Schiffsgenoß!
Was stierst du? – mit der Armbrust mein
Schoß ich den Albatros!
Buchempfehlung
In einem belebten Café plaudert der Neffe des bekannten Komponisten Rameau mit dem Erzähler über die unauflösliche Widersprüchlichkeit von Individuum und Gesellschaft, von Kunst und Moral. Der Text erschien zuerst 1805 in der deutschen Übersetzung von Goethe, das französische Original galt lange als verschollen, bis es 1891 - 130 Jahre nach seiner Entstehung - durch Zufall in einem Pariser Antiquariat entdeckt wurde.
74 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro