Zweites Kapitel.

[16] Nun stand ich also da und war in der Tat eine arme, selbständige Dame und wurde noch am selben Abend in die weite Welt geschickt. Ich wußte kein Plätzchen, wohin ich gehen konnte und hatte kein Stückchen Brot zu essen. Wenn ich mich recht erinnere, machte schließlich eine mitleidige Nachbarin die Dame, bei der ich den einen Monat gewohnt hatte, auf meine Lage aufmerksam, auf jeden Fall schickte die letztere am Abend ihr Dienstmädchen, um mich zu holen. Ich ging natürlich sofort mit, und freudigen Herzens, das können Sie mir glauben. Ich war noch so erschrocken und voll Angst, daß mir nichts mehr daran lag, eine Dame zu sein, und ich gern damit einverstanden gewesen wäre, als geringe Bedienstete einzutreten, und zwar für jede Arbeit, die sich mir bieten würde.

Doch hatte meine neue Herrin es besser mit mir vor.

Ich war übrigens kaum bei ihr, als die Frau Bürgermeisterin ebenfalls nach mir schickte, um sich[17] nach mir zu erkundigen. Und noch eine Familie, die sich schon früher sehr um mich bekümmert hatte, ließ nach mir fragen. Die Bürgermeisterin war sogar nicht wenig böse, daß die Andere mich schon vorher zu sich gerufen hatte. Denn wie sie sagte, gehörte ich von rechts wegen ihr, da sie ja doch die erste gewesen, die für mich gesorgt. Die Familie, die mich zuerst aufgenommen, wollte mich jedoch nicht wieder gehen lassen und ich – nun, ich muß sagen, ich war nirgendwo besser aufgehoben, als da, wo ich nun einmal war.

Ich blieb hier, bis ich zwischen siebzehn und achtzehn Jahr alt war, und genoß die beste Erziehung, die man sich denken konnte. Die Dame hielt für ihre Töchter Hauslehrer, die sie tanzen, französisch sprechen und schreiben, und andere, die sie Musik lehrten. Und da ich immer mit ihnen zusammen war, lernte ich so schnell wie sie, obschon die Lehrer nicht ausdrücklich angewiesen waren, mich auch mit zu unterrichten. Aber ich lernte eben durch Obacht und Fragen alles, was ihnen durch Belehrung beigebracht wurde, so daß ich in kurzer Zeit so gut wie nur eine von ihnen tanzen und französisch sprechen und viel besser singen konnte, denn ich hatte eine schönere Stimme. Zwar konnte ich nicht so fertig Spinett oder Klavier spielen, da ich kein eignes Instrument zum üben hatte, und das ihrige nur dann benutzen durfte, wenn sie keine Luft zum spielen hatten. Doch lernte ich ziemlich gut, und zum Schluß besaßen die jungen Damen ja zwei Instrumente, ein Spinett und ein Klavier, und unterrichteten mich auch selbst. Beim Tanzen konnten sie mich so wie so nicht entbehren, da sie mich nötig hatten, um eine gerade Zahl auszumachen. Und überhaupt lehrten sie mich ebenso gern alles was sie selbst lernten, wie ich willig war, mir Kenntnisse und Fertigkeiten von ihnen und mit ihnen anzueignen.

Auf diese Weise wurde ich also, wie ich schon bemerkt habe, so wohl erzogen, als wäre ich wirklich ein Fräulein, wie die, bei denen ich lebte. In manchen Dingen war ich sogar im Vorteil gegen[18] sie, denn ich war von der Natur mit Gaben ausgestattet, die sie sich mit all ihrem Vermögen nicht kaufen konnten. Erstens war ich hübscher als sie. Zweitens hatte ich eine bessere Gestalt und drittens sang ich besser, das heißt, ich hatte meine schönere Stimme. Übrigens behaupte ich dies alles nicht, weil es meine eigene Überzeugung, sondern die Meinung aller war, die in der Familie verkehrten.

Zu diesen Eigenschaften kam aber noch die übliche Eitelkeit meines Geschlechtes. Ich wußte nämlich sehr gut, daß man mich für hübsch, oder wenn man will, sogar für eine große Schönheit hielt, und hatte infolgedessen eine so gute Meinung von mir, wie nur irgend sonst jemand. Es machte mir ein großes Vergnügen, jemanden von meinen Vorzügen reden zu hören, was sehr oft vorkam und mir jedesmal eine große Genugtuung gewährte.

Bis hierher habe ich eine ganz glatte Geschichte von mir erzählen können. Ich durfte sagen, daß ich nicht nur stets in sehr guter und geachteter Umgebung gelebt, sondern daß ich auch selbst mich des Rufes eines bescheidenen, ehrlichen und tugendhaften Mädchens erfreute. Ich hatte nicht einmal Gelegenheit zu bösen Gedanken gehabt und wußte nicht, was eine Versuchung zum Schlechten bedeutete.

Aber mein Äußeres, auf das ich zu eitel war, wurde mein Verderben, oder vielmehr meine Eitelkeit, die war die Ursache zu meinen Verderben.

Die Dame, in deren Haus ich lebte, hatte nämlich zwei Söhne, junge Herren von außerordentlichen Gaben und feinem Benehmen. Zu meinem Unglück sollte ich mit beiden etwas bekommen, sie jedoch betrugen sich ganz verschieden gegen mich.

Der ältere, ein sehr munterer Herr, kannte die Stadt so gründlich wie die ländliche Umgebung; und obwohl er leichtsinnig genug war, allerlei übles zu tun, behielt er doch immer soviel Besinnung, um seine Genüsse nie zu teuer zu bezahlen. Er begann damit, die für alle Frauen gefährlichste Schlinge nach mir auszuwerfen; ich meine, er begann damit, mir bei jeder Gelegenheit zu sagen, wie[19] hübsch ich sei, welch gute Haltung ich habe, wie angenehm ihn mein Wesen berühre und dergleichen mehr. Und dies alles wußte er so geschickt vorzubringen, als habe er soviel Übung, Frauen in seinem Netz zu fangen, wie Rebhühner in seinen Schlingen, denn er sagte dies alles zu seinen Schwestern, wenn ich nicht gerade dabei, doch nahe genug war, um jedes Wort hören zu können. Seine Schwestern antworteten ihm dann wohl leise: »Still, Bruder, sie hört dich, sie ist ja im Nebenzimmer.« Dann hielt er inne, sprach leise weiter, als hätte er es nicht gewußt, tat darauf, als vergäße er sich plötzlich und sprach wieder laut. Und ich, die ich seine Reden ja gern hörte, belauschte sie natürlich bei jeder Gelegenheit. Nachdem er so seinen Köder ausgeworfen, und ihn leicht und sicher genug in meinen Bereich gespielt hatte, fing er an, offen vorzugehen.

Eines Tages kam er mit munterem Gesicht zu seiner Schwester ins Zimmer, in dem auch ich mich befand: »Oh, Fräulein Betty,« rief er wie überrascht aus, – Betty wurde ich nämlich damals genannt – »wie geht es ihnen, Fräulein Betty? Klingen ihnen ihre Ohren nicht?« Ich machte eine Verbeugung und errötete, doch sagte ich nichts.

»Was redest du so, Bruder?« warf seine Schwester ein.

»Nun, wir haben eben eine halbe Stunde von ihr gesprochen, nur von ihr.«

»Na,« meinte die Schwester, »da ihr doch nichts übles von ihr sagen konntet, dürfte es ihr ganz gleich sein, was ihr über sie redet.«

»Aber,« rief er, »wir haben auch gar nichts übles, sondern sehr viel gutes und angenehmes von ihr gesagt. Oder ist es nicht etwas gutes und angenehmes, wenn behauptet wird, daß sie das schönste junge Mädchen in ganz Colchester ist und daß man, kurz gesagt, bereits anfängt, in der Stadt auf ihre Gesundheit zu trinken?«

»Ich muß mich sehr über dich wundern, Bruder,« erwiderte die Schwester. »Unserer Betty fehlt allerdings, das gebe ich zu, bloß eines, aber da sie dies[20] nicht hat, könnte ihr ebensogut alles fehlen. Denn es ist jetzt eine sehr schlimme und ungünstige Zeit für uns Mädchen und wenn eines von uns selbst aus gutem Hause ist, auch Schönheit, Erziehung, Klugheit, zierliches Betragen und Bescheidenheit im Übermaß besitzt, so nützt ihr das alles nichts, wenn sie kein Geld hat. Sie zählt einfach nicht und könnte alle anderen Eigenschaften ruhig entbehren. Nur das Geld empfiehlt heutzutage ein Mädchen von Bettys Alter, und die Männer denken in diesem Punkte wohl alle gleich.«

Aber da fiel ihr ihr jüngerer Bruder, der auch zugegen war, in die Rede: »Halt, Schwester, nicht zu hastig!« rief er, »ich bin eine Ausnahme von deiner Regel. Ich versichere dich, wenn ich ein so wohl ausgestattetes Mädchen fände, wie du es eben beschrieben hast, so würde ich mich um das Geld nicht kümmern.«

»Oh,« sagte die Schwester, »du würdest dich aber schon hüten, ein solches Mädchen ohne Geld zu finden.«

»Das kannst du durchaus nicht wissen,« antwortete der Bruder.

»Aber weshalb,« sagte jetzt der ältere, »legst du soviel Gewicht auf das Vermögen? Was dir auch sonst fehlen mag, über diesen Mangel hast du dich doch sonst nicht zu beklagen.«

»Ich verstehe dich sehr wohl, Bruder,« antwortete die junge Dame scharf. »Du willst sagen, Geld hätte ich, aber keine Schönheit. Doch wie die Zeiten nun einmal sind, genügt dieses vollständig und ich bin immerhin noch besser dran als manche andere.«

»Nun,« sagte der jüngere Bruder, »es kann aber doch vorkommen, daß manche andere nicht hinter dir zurückzustehen braucht, denn Schönheit stiehlt sich zuweilen einen Gatten trotz des Geldes. Und wenn das Zöfchen vielleicht zufällig hübscher ist als die Herrin, steht sie auf dem Heiratsmarkt oft ebenso hoch und fährt lange, lange vor ihr in der Hochzeitskutsche.«[21]

Ich hielt es nun an der Zeit, mich zurückzuziehen. Doch begab ich mich nur soweit weg, daß ich auch ihre weiteren Reden noch verstehen konnte, in denen ich noch viele schöne Dinge über mich hörte, die meiner Eitelkeit schmeichelten, aber, wie ich bald einsehen mußte, nicht danach angetan waren, mich in der Familie beliebter zu machen. Denn die Schwester und der jüngere Bruder gerieten meinet halben ernsthaft aneinander, und da er ihr zu meinen Gunsten einige sehr wenig verbindliche Dinge gesagt hatte, mußte ich bald fühlen, wie sie sich dafür durch ihr künftiges und doch gewiß sehr ungerechtes Benehmen mir gegenüber zu rächen suchte. Ich hatte die Gedanken, die sie bei mir in Bezug auf ihren jüngeren Bruder argwöhnte, nie gehabt. Nur der ältere hatte, wie ich schon erzählte, im Scherz eine Menge Dinge gesagt, die ich, töricht genug, für Ernst gehalten; so daß ich mich denn mit Hoffnungen geschmeichelt, von denen ich mir hätte sagen müssen, daß er nie daran denken könne, sie zu verwirklichen.

Eines Tages kam er wieder die Treppen heraus und in das Zimmer gelaufen, in dem seine Schwester meist ihre Handarbeiten machte. Er hatte es schon öfter getan und rief auch diesmal, wie gewöhnlich, vor der Türe ihren Namen. Da ich mich allein in dem Raume befand, ging ich auf die Türe zu und rief: »Sie, die Damen, sind nicht hier, sie sind hinunter in den Garten gegangen.«

Doch im selben Augenblick schoß er auch schon herein und umarmte mich, als wäre es zufällig geschehen.

»Oh, Fräulein Betty,« sagte er, »sie sind hier, das ist ja viel besser. Ich habe mehr mit ihnen zu sprechen als mit den Schwestern;« und da er mich einmal in seinem Arm hatte, küßte er mich drei oder viermal.

Ich wand mich, um von ihm loszukommen, jedoch wohl nur schwach, denn er hielt mich fest und küßte mich immer wieder, bis er ganz außer Atem war, dann setzte er sich auf einen Stuhl und sagte: »Liebe Betty,« sagte er, »ich bin in dich verliebt.«[22]

Ich muß gestehen, diese Worte brachten mein Blut auf. Es kam mir vor, als ströme jeder Tropfen zu meinem Herzen, und ich geriet in eine große Verwirrung. Er wiederholte nun noch mehrere Male, daß er in mich verliebt sei; und mein Herz sprach deutlich wie eine Stimme, daß ich es gern hörte; ja, jedesmal, wenn er es wieder sagte, antwortete mein Erröten allzudeutlich: »ich wollte, es wäre so!« Doch ereignete sich da noch nichts; ich war nur überrascht worden und fand bald meine Sinne wieder. Er wäre wohl gerne länger bei mir geblieben, doch sah er, als er zufällig aus dem Fenster blickte, seine Schwestern aus dem Garten heraufkommen. So nahm er schnell Abschied, küßte mich noch einmal, sagte, daß er es ernst mit mir meine, daß ich bald mehr von ihm hören solle und – weg war er; offenbar ganz außerordentlich mit sich zufrieden und der Wendung der Dinge. Ich hätte es auch sein können, wenn nicht, ja, wenn nicht leider die Verhältnisse so gelegen wären, daß Fräulein Betty diese Wendung ernst nahm und der junge Herr durch aus nicht.

Von nun an gingen mir allerlei sonderbare Gedanken durch den Kopf, und ich kann wohl sagen, ich war gar nicht mehr ich selbst, war nicht mehr die alte Betty, bei der Vorstellung, daß solch ein Herr gesagt hatte, er sei in mich verliebt und ich sei ein über die Maßen entzückendes Geschöpf. Ich wußte oft nicht, wie ich mit all dem fertig werden sollte, und meine Eitelkeit wuchs. In meinem Kopf waren jetzt nur hochmütige und stolze Gedanken, das ist wahr, aber da ich die Verderbtheiten der Zeit nicht kannte, hatte ich keine Ahnung davon, daß auch meine Tugend hier in Frage kommen könne: und wäre mir der junge Herr gleich beim erstenmale mit seinem Antrage gekommen, so hätte er sich gewiß jede Freiheit, die ihm beliebte, bei mir herausnehmen können. Doch nahm er seinen Vorteil damals noch nicht wahr: zum Glück für mich, für dies eine Mal.

Nicht lange danach fand er wieder eine Gelegenheit,[23] mich zu überraschen, und zwar fast unter den gleichen Umständen, das heißt, von seiner Seite lag wieder Absicht vor, von meiner nicht die geringste. Die jungen Damen waren mit ihrer Mutter ausgegangen, um einen Besuch zu machen, der jüngere Bruder war überhaupt nicht in der Stadt, und der Vater befand sich ebenfalls schon seit acht Tagen außerhalb, in London. Der junge Herr hatte mich so genau beobachtet, daß er wußte, wo ich war, obwohl ich nicht ahnte, daß er sich überhaupt im Hause befand. Er eilte auch diesmal schnell die Treppen herauf, sah mich bei der Arbeit sitzen, trat ins Zimmer und tat wieder, was er das vorige Mal getan; das heißt er nahm mich in den Arm und küßte mich wohl eine Viertelstunde lang.

Ich befand mich im Zimmer seiner jüngeren Schwester, und da außer der Magd unten niemand im Hause war, benahm er sich vielleicht ein wenig stürmischer als das erste Mal. Vielleicht fand er auch, daß ich ihm ein wenig sehr willfährig sei, denn ich leistete nicht den geringsten Widerstand, als er mich in seine Arme nahm und küßte; ich war nämlich viel zu erfreut darüber, um mich erst lange zu wehren; das muß ich gestehen.

Nun, als er das Küssen müde geworden, ließen wir uns nieder und er sprach eine lange Zeit auf mich ein; er sagte, daß ich ihm so sehr gefalle und daß er keine Ruh noch Rast habe, bis er mir nochmals gesagt, wie sehr er in mich verliebt sei und wenn ich ihn wieder lieben könne und glücklich machen wolle, so würde ich das Heil seines Lebens sein und viel ähnliche schöne Worte. Ich antwortete ihm nur sehr wenig und entdeckte bald, daß ich gar nicht verstand, was er meinte.

Dann ging er im Zimmer auf und ab, nahm mich bei der Hand und ich schritt mit ihm hin und her. Mittlerweile schien er bemerkt zu haben, in welchem Vorteil er sich befand, denn er warf mich auf das Bett und küßte mich von neuem und sehr heftig; doch muß ich ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen und sagen, daß er in keiner Weise[24] gewalttätig mit mir verfuhr, sondern mich nur immer und immer wieder küßte; dann sagte er jedoch, er höre jemanden die Treppe herauf kommen, stand von dem Bette auf, half auch mir aufstehen, drückte mir noch einmal seine große Liebe aus, wiederholte daß seine Zuneigung zu mir eine ganz ehrliche sei und daß er nur das beste mit mir im Sinne habe ... und mit diesen Worten steckte er mir fünf Guineen in die Hand und eilte die Treppe hinunter.

Der Anblick des Geldes setzte mich in größere Verlegenheit und Verwirrung, als es die Liebe getan; ja, ich war so aufgeregt, daß ich kaum den Boden unter meinen Füßen fühlte.

Alle diese Einzelheiten erzähle ich hier so genau, damit, wenn irgend ein junges unschuldiges Blut diese Geschichte lesen sollte, es sich beizeiten sagt, wie viel Übles daraus entstehen kann, wenn man zu früh von seinen Reizen eine Kenntnis erhält; weiß ein junges Mädchen erst einmal, daß sie schön ist, dann wird sie nie mißtrauen, wenn ein junger Mann ihr sagt, er liebe sie; denn da sie sich ja für reizvoll genug hält, um ihn überhaupt fesseln zu können, ist es nur ganz natürlich, daß sie glaubt, sie fessele tatsächlich gerade ihn.

Mein junger Mann hatte also sein Begehren nach mir ebenso angefeuert wie meine Eitelkeit; und ob er nun finden mochte, daß er eigentlich eine gute Gelegenheit unbenützt hatte vorübergehen lassen und sich darüber jetzt ärgerte – jedenfalls kam er nach einer halben Stunde wieder herauf und verfuhr wieder mit mir wie vorhin, nur machte er jetzt noch weniger einleitende Umstände.

Als er das Zimmer betreten, wandte er sich zuerst wieder um und schloß die Türe.

»Fräulein Betty,« sagte er dann, »ich glaubte eben, es käme jemand die Treppe herauf, doch war es nicht der Fall. Und wenn sie mich auch hier im Zimmer bei ihnen finden sollten, so will ich darum doch um keinen Kuß zu kurz kommen.«

Ich sagte darauf, ich wisse nicht, wer überhaupt herauskommen könne, denn ich glaube, es sei niemand[25] sonst im Hause als der Koch und das Küchenmädchen, die niemals nach oben kämen.

»Desto besser, meine Liebste,« sagte er, »es ist immer gut, sicher zu gehen,« und er setzte sich nieder und begann wieder zu reden; und obwohl ich von eben her noch brannte und glühte und kaum antworten konnte, sprach er doch so unablässig auf mich ein, beschrieb mir, wie leidenschaftlich er mich liebe und sagte, daß er, obwohl er noch nicht im Besitze seines Vermögens sei, ganz fest entschlossen wäre, mich und sich glücklich zu machen, das heißt mich zu heiraten. In der Weise redete er noch eine Menge Dinge, ohne daß ich arme Närrin seine Absicht verstand; ich verblieb fest in dem Glauben, es gäbe überhaupt keine andere Liebe, als die mit einer gesetzmäßigen Ehe endigte. Und als er erst soviel gesagt, hatte ich weder die Neigung noch die Kraft, ihm mit einem Nein zu antworten; doch kamen wir auch jetzt noch nicht bis zum letzten Ende.

Zwar saßen wir noch nicht lange, als er aufstand, mir mit Küssen fast den Atem raubte und mich wieder auf das Bett warf; diesmal ging er auch weiter mit mir, als mir der Anstand zu erzählen erlaubt; ich hätte jedoch nicht die Kraft gehabt, ihn zurückzuweisen, selbst wenn er noch viel weiter mit mir gegangen wäre.

Immerhin, trotzdem er sich all solche Freiheiten mit mir herausnahm, kam es auch diesmal nicht, wie gesagt, zu dem letzten Ende, nicht zu dem, was man die letzte Gunstbezeugung nennt; er versuchte nicht einmal, sie zu erlangen, was ich der Gerechtigkeit halber wieder erwähnen muß; und diese Selbstüberwindung gebrauchte er später als Entschuldigung für all seine Freiheiten bei andern Anlässen. Er blieb dies mal auch nicht sehr lange, steckte mir plötzlich fast eine ganze Hand voll Gold zu und verließ mich mit tausend Beteuerungen seiner Leidenschaft und der oft wiederholten Versicherung, daß er von allen Frauen der Welt nur mich lieben könne.

Es wird niemanden verwundern, daß ich nun nach und nach ein wenig nachzudenken begann, doch[26] tat ich es leider mit nicht viel Vernunft. Ich verfügte über ein fast unbegrenztes Maß an Eitelkeit und Stolz und über einen nur zu geringen Vorrat an Tugend. Ich erwog zwar zuweilen die Absicht, die der junge Herr mit mir hatte, doch dachte ich im allgemeinen nur an seine schönen Worte und an das Gold. Ich dehnte meine Betrachtungen nicht so weit aus, mir jemals klar zu machen, ob er mich wirklich heiraten könne oder nicht. Und ich tat nichts, um ihn an mich zu fesseln oder anzulocken, bis er mir selbst mit klaren, förmlichen Anträgen kam, wie Sie gleich hören sollen.

So stürzte ich mich gedankenlos in meinen Untergang und bin eine deutliche Warnung für alle jungen Frauen und Mädchen, deren Eitelkeit größer ist als ihre Tugend. Und dabei handelten wir alle beide noch höchst unklug und unvorteilhaft. Denn hätte ich mich betragen, wie ich sollte, und ihm, wie Tugend und Ehre es verlangten, widerstanden, so hätte er entweder von seinen Angriffen abgelassen, da er nicht hoffen durfte, sein Ziel zu erreichen, oder er hätte mir anständig und ehrlich einen Heiratsantrag gemacht. Und wer ihn dann auch immer tadelnswert finden mochte, mich konnte kein Vorwurf treffen. Hätte er mich jedoch gekannt und gewußt, wie leicht er die Kleinigkeit, nach der ihn verlangte, bei mir erreichen konnte, dann wäre weiteres Kopfzerbrechen für ihn ganz unnötig gewesen; er hätte mir bloß vier oder fünf Guineen gegeben und bei der ersten besten Gelegenheit bei mir geschlafen. Und anderseits würde ich, wenn mir seine Gedanken bekannt gewesen wären und seine Meinung, ich sei wunder wie schwer zu erringen, schon meine Bedingungen gestellt und wenn auch nicht auf sofortige Heirat, so doch auf standesgemäßen Unterhalt bis zu unserer dereinstigen Verheiratung gedrungen haben. Und höchst wahrscheinlich hätte ich meinen Willen auch durchgesetzt, denn er war ja, auch ganz abgesehen von dem, was er noch zu erwarten hatte, außerordentlich reich. Doch kam ein derartiger regelrechter Plan, wie ich mit ihm zu[27] verfahren hätte, bei mir nicht auf; ich war vollständig eingenommen von meiner Eitelkeit und dem Stolz, von einem so großen Herren geliebt zu werden; dazu kam das Gold – ganze Stunden brachte ich damit zu, es zu betrachten, ich zählte die Guineen wohl tausendmal am Tage. Niemals war eine arme, kleine, eitele Kreatur verblendeter, als ich in jener Zeit, da ich auch nicht im entferntesten dachte, wie nahe mein Untergang vor der Türe stand; ja ich glaube, ich wünschte ihn innerlich sogar eher herbei, als daß ich versucht hätte, ihm zu entgehen.

Ich war jedoch schlau genug, niemandem in der Familie den geringsten Anlaß zu der Vermutung zu geben, ich unterhalte irgend welche Beziehungen zu dem ältesten Sohne. Ich sah ihn in Gegenwart anderer kaum an, antwortete kaum, wenn er mich gelegentlich anredete. Trotzdem trafen wir immer hin und wieder einmal zusammen und fanden Zeit zu ein paar Worten oder einem Kuß, doch niemals Gelegenheit zu dem Unheilvollem, das er im Sinne hatte, denn er hielt ja eine Menge Umschreibungen und Vorbereitungen für nötig, und hielt das Werk für so schwer, daß er es sich wirklich schwierig machte.

Da der Teufel jedoch nicht so leicht zu entmutigen ist, findet er stets Mittel und Wege, um die Niedertracht, die er vorhat, auszuführen.

Als ich mich eines Abends mit den beiden jüngeren Schwestern und ihm im Garten erging, fand er die Möglichkeit, ein Zettelchen in meine Hand schlüpfen zu lassen, in dem er mir mitteilte, daß er mich morgen im Beisein der Familie bitten werde, eine Besorgung für ihn zu machen, und daß er mich dann unterwegs irgendwo treffen wolle.

So sagte er denn auch am folgenden Tage nach dem Mittagessen in Gegenwart all seiner Schwestern ernsthaft zu mir: »Ich wollte sie um eine Liebenswürdigkeit bitten, Fräulein Betty.«

»Was soll das heißen?« fragte die zweite Schwester.

»Nun, Schwester,« erwiderte er ihr sehr ruhig[28] und höflich, »wenn du Fräulein Betty heute nicht entbehren kannst, so kann sie mir den Gefallen auch ein anderes Mal tun.«

»Doch, doch,« riefen nun die Schwestern alle: sie könnten mich heute sehr gut entbehren; und die zweite bat sogar um Verzeihung für ihre unfreundliche Frage.

»Aber du mußt dem Fräulein Betty nun auch sagen, um was es sich handelt,« meinte schließlich die älteste, »wenn es eine Privatangelegenheit ist, so geh mit ihr hinaus ...«

»Wie meinst du das, Schwester?« fragte der junge Herr nun sehr würdevoll. »Ich wollte sie nur bitten, für mich in die Highstreet und dort in einen Laden zu gehen.« Und darauf erzählte er ihnen eine lange Geschichte von zwei prächtigen Halstüchern, auf die er schon geboten hätte: ich solle gehen und sein Angebot wiederholen, und wenn man auf dasselbe noch immer nicht eingehen wolle, noch einen oder zwei Schilling mehr bieten, jedenfalls aber tüchtig feilschen. Und dann trug er mir noch eine ganze Menge anderer Besorgungen auf, so daß ich längere Zeit zu ihrer Erledigung brauchen mußte.

Als er mir diese Aufträge gegeben, schwindelte er seinen Schwestern noch in einer langen Erzählung von einem Besuch vor, den er bei einer ihnen allen wohlbekannten Familie machen wolle. Er werde dort noch einen andren Herrn ihrer Bekanntschaft treffen und bitte sie höflichst, sich ihm doch anzuschließen. Die Schwestern entschuldigten sich aber ebenso höflich, da sich bei ihnen für den Nachmittag selbst Besuch angesagt habe, was der Gentleman, der alles zu seinem Zweck aufs schlaueste eingerichtet hatte, natürlich längst ganz genau wußte.

Er hatte kaum zu reden aufgehört, als sein Diener ins Zimmer trat und ihm mitteilte, daß der Wagen des Herrn W– vor der Türe stehe. Er lief schnell hinunter und kam bald mit den Worten wieder zurück: »Ach, dieser Nachmittag wäre mir wieder verdorben; Herr W– hat mir[29] seinen Wagen geschickt und läßt mich bitten, ich möchte umgehend zu ihm kommen, da er mit mir zu reden habe.« Ich glaube, dieser Herr W– war ein Edelmann, der auf seinen drei Meilen entfernten Besitzungen lebte und den mein Liebhaber gebeten hatte, ihm für eine besondere Gelegenheit seinen Jucker zu leihen, der ihn, wie es jetzt auch geschehen war, gegen drei Uhr nachmittags abholen sollte.

Er ließ sich nun gleich seine beste Perrücke, seinen Hut und Degen bringen, schickte seinen Diener mit einer Entschuldigung zu der Familie, die ihn für heute eingeladen haben sollte, und machte sich bereit, das Wägelchen zu besteigen. Im Vorübergehen blieb er noch einen Augenblick bei mir stehen, redete sehr ernsthaft von den Besorgungen zu mir, und sagte zum Schluß ganz leise: »Und nun, meine Liebe, komm, so schnell es geht.«

Ich antwortete nichts, sondern machte nur eine Verbeugung, als wolle ich damit sagen, daß ich all seine Aufträge, die er mir mit lauter Stimme gegeben, gut verstanden habe und ausführen werde. Nach ungefähr einer Viertelstunde ging ich dann auch unauffällig und harmlos fort. Ich hatte kein anderes Kleid angezogen, nur einen Hut aufgesetzt, eine Maske, einen Fächer und ein Paar Handschuhe in meine Tasche gesteckt, so daß ich im Hause nicht den geringsten Argwohn erregte. Er wartete in einem Seitengäßchen, durch das ich kommen mußte, auf mich, der Kutscher wußte schon, wohin er uns fahren sollte – an einem Ort nämlich, der Mile-end hieß, und wo ein Vertrauter meines Liebhabers wohnte und wir alle Bequemlichkeiten der Welt fanden, um so viel böses zu tun, als wir nur wollten.

Als wir dort waren, fing er wieder sehr ernsthaft mit mir zu reden an und sagte, er habe mich nicht hierher gebracht, um mich ins Verderben zu stürzen, seine wahre Leidenschaft zu mir mache es ihm ganz unmöglich, mein Vertrauen zu mißbrauchen. Er sei fest entschlossen, mich zu heiraten, so bald er in den vollen Besitz seiner Güter gelange; und mittlerweile[30] würde er mich, wenn ich seine Bitte erfülle, standesgemäß unterhalten ... noch tausendmal beteuerte er mir seine Aufrichtigkeit und seine Zuneigung, sagte, er werde mich nie verlassen, kurz, machte wieder viel mehr Umschweife, als nötig gewesen wären.

Als er mich nun drängte, ihm eine Antwort zu geben, erwiderte ich, daß ich ja keinen Grund hätte, an seiner Aufrichtigkeit und seiner Liebe zu zweifeln, aber – hier hielt ich inne, als überlasse ich es ihm, den Schluß meines Satzes zu erraten.

»Aber – was? meine Liebe?« setzte er ihn fort, »du willst sagen, aber wenn ich nun guter Hoffnung werde, nicht wahr? Nun, dann werde ich für dich sorgen, und für das Kind auch, und damit du siehst, daß es auch wirklich meine Absicht ist, will ich es dir schon gleich beweisen.« Damit zog er eine seidene Börse mit hundert Guineen aus der Tasche und reichte sie mir. »Und jedes Jahr, bis wir heiraten, sollst du ebensoviel bekommen,« fügte er noch hinzu.

Beim Anblick des Geldes, und wie er so drängend seine Anträge vorbrachte, wechselte ich mehrmals die Farbe, so daß er es bemerkte; auch, daß ich kein Wort sprechen konnte; er steckte mir die Börse in den Busen, ich leistete ihm nicht mehr den geringsten Widerstand und ließ ihn tun, was er wollte und wie oft er wollte und schuf mir so selbst meinen Untergang, denn von diesem Tage an blieb mir, da ich nun von aller Tugend und Scham entblößt war, nichts mehr an Wert, das mich der Hilfe Gottes oder dem Beistand der Menschen hätte empfehlen können.

Ich begab mich schließlich in die Stadt zurück, besorgte die Geschäfte, die er mir aufgetragen hatte, und war wieder zu Hause, ehe jemand sagen konnte, ich sei zu lange ausgeblieben. Der junge Herr jedoch blieb bis spät in die Nacht fort und weder er noch ich erregten bei der Familie den geringsten Argwohn.

Wir hatten nun häufig Gelegenheit, unser schmähliches Tun zu wiederholen und vollführten[31] es selbst zu Hause, wenn die Mutter und die jungen Damen irgend wohin zu Besuch gegangen waren, was mein junger Herr immer vorher genau auskundschaftete, um nur nie zu verfehlen, mich, die dann in aller Sicherheit allein war, aufzusuchen, so daß wir fast ein halbes Jahr lang den vollen Becher unserer Schlechtigkeit tranken und zwar ohne daß ich, wie ich mit vollster Genugtuung merkte, schwanger wurde.

Quelle:
Daniel De Foe: Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders. Berlin [1903]., S. 16-32.
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