Sechzehntes Kapitel.

[203] Den Tag nach meiner Abreise von Dunstable kam ich wieder in London an, begab mich aber nicht in meine alte Wohnung, sondern nahm eine Privatwohnung in der St. John's-street oder, wie die gewöhnlichen Leute sie nennen, in der St. Jones's; und da ich hier nun so ganz allein war, hatte ich Muße genug, mich hinzusetzen und des Längeren und Ernsthafteren über die siebenmonatliche Fahrt, die ich nun hinter mir hatte, nachzudenken; an die fröhlichen Stunden mir meinem letzten Gatten erinnerte ich mich dabei mit außerordentlichem Vergnügen, das sich jedoch bedeutend verminderte, als ich nach einiger Zeit bemerkte, daß ich guter Hoffnung sei.

Ich war zunächst ziemlich ratlos, denn ich sah sofort voraus, was sich für viele Schwierigkeiten bieten würden, ehe ich jemand fand, der mir gestattete, in seinem Hause niederzukommen: es gehörte nämlich damals durchaus nicht zu den angenehmsten Dingen für eine »unverheiratete« Frau, die fremd war und keine Freunde hatte, wie ich, auch noch ein Kind zu bekommen.[204]

Mit meinem Freunde von der Bank hatte ich die ganze Zeit über meine Korrespondenz aufrecht erhalten, oder vielmehr er mit mir, denn er schrieb mir pünktlich einmal jede Woche, und obgleich ich mein Geld nicht so schnell ausgegeben hatte, um wieder welches von ihm zu bedürfen, schrieb auch ich ihm oft, um ihn wissen zu lassen, daß ich überhaupt noch lebe. In Lancashire hatte ich hinterlassen, wohin man mir die Briefe von ihm nachsenden sollte, so daß ich auf diesem Wege auch jetzt in meinem Schlupfwinkel in der St. Jones's einen sehr liebenswürdigen Brief von ihm erhalten konnte, indem er mir mitteilte, daß sein Scheidungsprozeß im allgemeinen nach Wunsch fortschreite, obgleich er auf einige unerwartete Schwierigkeiten gestoßen sei.

Die Nachricht, daß sein Prozeß langsamer fortschreite, als er gedacht, war mir im Grunde nicht unangenehm; ich hätte ja jetzt doch noch nicht seine Frau werden können, denn so töricht war ich nicht, ihn zu heiraten, während ich mich von einem anderen Manne schwanger wußte –, wie das wohl andere Frauen gewagt haben würden und auch gewagt haben. Anderseits wollte ich ihn aber auch nicht verlieren und war entschlossen, mich ihm von neuem zu nähern, sobald ich wieder dazu imstande sein würde: daß ich von meinem anderen Gatten nichts zu erwarten hatte, vielleicht sogar nie wieder etwas von ihm hören würde, war klar; außerdem hatte er mich ja selbst immer gedrängt, mich wieder zu verheiraten, und mir versichert, daß er darüber durchaus nicht zornig werden würde, oder gar jemals wieder Anspruch auf mich erheben wolle. Deshalb machte ich mir keinerlei Bedenken, sobald ich nur könne und wenn mein braver Spießbürger bei seiner Absicht beharre, diesen zu meinem Gatten zu nehmen. Und die Briefe, die er mir schrieb, waren so liebenswürdig und verbindlich, daß ich allen Grund hatte, anzunehmen, er beharre noch auf seinem Wunsch; außerdem sprach er in ihnen selbst von unserer Heirat als etwas ganz Selbstverständlichem.

Ich wurde inzwischen immer stärker, so daß die[205] Leute, bei denen ich wohnte, es schließlich bemerkten, und mir, soweit die Höflichkeit es zuließ, denn auch richtig andeuteten, ich möge daran denken, die Wohnung zu wechseln. Ich wußte nun nicht, was ich beginnen solle, wurde außerordentlich traurig und sann ratlos vor mich hin. Ich hatte ja etwas Geld, doch keine Freunde – und dann würde ich nun bald auch noch ein Kind selbst zu unterhalten haben, eine Schwierigkeit, in der ich, wie meine Geschichte bisher gezeigt, mich noch nie befunden hatte.

Schließlich wurde ich obendrein noch sehr krank und meine Traurigkeit vermehrte natürlich mein Übelbefinden. Es stellte sich allerdings bald heraus, daß meine Krankheit bloß ein vorübergehendes Fieber war, doch mußte eine Frühgeburt befürchtet werden; ich sollte zwar nicht sagen »befürchtet«, denn ich wäre eigentlich herzlich froh gewesen, wenn ich auf diese Weise von dem Kinde befreit worden wäre; doch war mir selbst nie auch nur der Schatten eines Gedankens gekommen, etwas künstlich dazu zu tun; ja, den bloßen Gedanken würde ich als abscheulich zurückgewiesen haben.

Als wir über meinen Zustand sprachen, schlug mir die Dame, bei der ich wohnte, vor, zur Hebamme zu schicken; ich hatte anfangs meine Bedenken, willigte dann jedoch ein, sagte ihr aber, ich kenne keine Hebamme und überlasse die Wahl ihr.

Es kam mir allmählich vor, als seien der Hausherrin Fälle, wie der meinige, doch nicht so unvertraut, wie ich zuerst gedacht; wenigstens schickte sie nach einer »richtigen« Hebamme, das heißt nach einer, die für mich die richtige war, wie sich zeigen sollte.

Die Frau, die kam, schien viel Erfahrung zu besitzen, ich meine, als Hebamme, doch hatte sie auch noch ein anderes Gewerbe, in dem sie ebenfalls sehr gewitzt war.

Meine Hauswirtin hatte ihr gesagt, daß ich sehr melancholisch sei und meine ganze Traurigkeit vielleicht mein ganzes Übel verschuldet habe. Und in meiner Gegenwart wiederholte sie noch einmal:[206] »Ich glaube, das ganze Leid dieser Dame schlägt ziemlich ausschließlich in Ihr Fach, beste Frau, und wenn Sie etwas für sie tun können, so tun Sie es bitte, denn sie ist wirklich eine liebenswürdige Dame.«

Ich verstand nicht, was sie damit sagen wollte, die Hebamme aber erklärte mir es, sobald die andere gegangen, sehr ausführlich: »Madam«, sagte sie, »Sie scheinen nicht zu verstehen, was Ihre Hauswirtin meinte, wenn es aber doch der Fall ist, so zeigen Sie es ihr nur ja nicht. Sie meint nämlich, daß Sie sich in Verhältnissen befinden, die Ihnen Ihre Niederkunft sehr erschweren und denen Sie sich vielleicht entziehen möchten. Ich brauche Ihnen wohl nicht mehr zu sagen, als daß ich, falls Sie mir etwas von Ihren Verhältnissen mitzuteilen für gut halten sollten, vielleicht in der Lage bin, Ihnen Ihre Sorgen abzunehmen, und all Ihre trüben Gedanken zu zerstreuen.«

Jedes Wort dieser Frau klang so ermunternd, daß es mir bis ins innerste Herz drang und mich mit neuem Leben erfüllte; mein Blut begann sofort wieder leichter zu kreisen und ich wurde mit einem Male wieder ein ganz anderer Mensch; ich nahm etwas Nahrung zu mir und fühlte mich darauf auch körperlich gestärkt. Sie redete in der gleichen Richtung noch eine Zeitlang auf mich ein, drängte mich, offenherzig mit ihr zu reden, und versprach mir feierlich, verschwiegen zu sein. Dann hielt sie inne, als wollte sie sehen, welchen Eindruck ihre Worte auf mich gemacht hätten, und abwarten, was ich ihr antworten würde.

Ich fühlte zu lebhaft, wie sehr ich eine solche Frau nötig hatte, als daß ich gewagt, ihr Anerbieten zurückzuweisen. Ich sagte ihr also, meine Lage sei in der Tat derartig, wie sie annehme, – das heißt, nur zum Teil. Denn ich sei wirklich verheiratet und hätte einen Gatten, obgleich er jetzt so weit von mir entfernt sei, daß er nicht zugegen sein könne.

Sie fiel mir jedoch ins Wort und sagte, das gehe sie nichts an. Alle Damen, die sich ihrer Fürsorge anvertrauten, seien verheiratete Frauen für[207] sie. »Jede Frau«, sagte sie, »die schwanger ist, hat auch einen Vater für ihr Kind, und ob dieser nun ihr Gatte ist oder nicht, das geht mich, wie gesagt, nichts an.« Sie habe, sagte sie weiter, mir nur in meinen Umständen beizustehen, ob ich nun einen Gatten habe oder nicht; »denn, Madam«, meinte sie zum Schluß, »ein Gatte, der nicht da ist, ist so gut wie kein Gatte, und es ist also ganz gleich, ob Sie die Gattin oder die Geliebte eines Mannes sind.«

Ich sah jetzt ein, daß ich, ob ich nun eine Dirne oder eine Ehefrau war, hier doch für eine Dirne gelten werde, und ließ es dabei bewenden. Ich antwortete denn auch blos, es sei ja alles wahr, was sie sage, da ich ihr meine Verhältnisse aber erzählen solle, wolle ich sie auch der Wahrheit gemäß darstellen. Ich legte sie darauf so kurz wie möglich auseinander und schloß: »Ich bemühe Sie mit diesem allem, Madam, nicht weil ich glaube, daß es für Sie von irgend welcher Bedeutung sein kann, sondern nur meinethalben, um Ihnen zu zeigen, daß ich nicht fürchte, gesehen zu werden und daß mir nichts daran liegt, mich zu verbergen. Die Schwierigkeit ist nur die, daß ich keine Verwandte in dieser Gegend habe.«

»Ich verstehe Sie sehr wohl, Madam,« antwortete sie. »Sie vermögen keine Papiere beizubringen, um den in solchen Fällen üblichen lästigen Nachfragen seitens der Kirchspielverwaltung begegnen zu können. Und vielleicht,« fuhr sie fort, »wissen Sie auch nicht, was Sie mit dem Kinde beginnen sollen, wenn es da ist.«

»Dieses macht mir nicht soviel Sorge als das andere, antwortete ich.«

»Also, Madam«, begann sie wieder, »wollen Sie sich meinen Händen anvertrauen? Ich wohne in der Melk street, im Haus mit dem Zeichen der Wiege, und heiße B–. Und wenn ich mich auch nicht nach Ihnen erkundige, so können Sie doch über mich Nachforschungen anstellen. Ich bin Hebamme von Beruf, und viele Damen kommen in meinem Hause nieder. Ich habe der Verwaltung[208] des Kirchspiels im allgemeinen die Sicherheit gegeben, daß ihr die Kleinen, die unter meinem Dache zur Welt kommen, nicht zur Last fallen. Und Ihnen habe ich in der ganzen Sache nur eine Frage zu stellen, wenn Sie die beantwortet haben, brauchen Sie sich um alles übrige keine Sorge zu machen.«

Ich verstand sogleich, worauf sie hinauswollte, und sagte ihr: »Madam, ich glaube, ich verstehe Sie und ich danke Gott, daß ich, wenn auch keine Freunde in dieser Welt, so doch Geld besitze, das heißt, soviel wie nötig sein wird; denn an Überfluß leide ich gerade auch nicht.« Dies letzte sagte ich, damit sie nicht allzu große Erwartungen hegen solle.

»Nun also, Madam,« entgegnete sie, »dann haben Sie ja das Ding, ohne welches in solchen Fällen nichts zu machen ist. Aber Sie werden sehen, daß ich Sie nicht auf Kosten treiben noch sonst unbillig mit Ihnen verfahren will. Sie sollen jede Kleinigkeit vorher wissen, damit Sie sich so bequem oder so sparsam einrichten können, wie es Sie gut dünkt.«

Ich entgegnete ihr, sie scheine meine Lage ja so wohl zu übersehen, daß ich sie nur noch um eines zu bitten brauche; da ich genügend Geld, jedoch nicht allzuviel habe, möge sie nämlich alles so einrichten, daß mir so wenig wie möglich überflüssige Kosten entständen.

Sie erwiderte, sie wolle mir eine Aufstellung der Ausgaben in verschiedenen Höhen bringen. Ich möge dann meine Wahl treffen.

Ich bat sie, es recht bald zu tun, und schon am nächsten Tage brachte sie mir eine Abschrift dreier Rechnungen


£s.d.

Drei Monate Wohnung und Pension im

Hause zu zehn s. die Woche, macht6 00

Für die Kinderfrau für den Monat und

die Benutzung der Kindbettwäsche1100

Für den Geistlichen bei der Taufe, die

Paten und den Schreiber1100

–––––––––––––––––––––

Summa £8200
[209]

Übertrag£8200

Für das Abendessen bei der Taufe, wenn

fünf Freunde eingeladen werden1 00

Die Gebühren als Hebamme und die

Besorgungen bei der Kirchspielverwaltung3 30

Für das Dienstmädchen0100

–––––––––––––––––

£13130


Dies war die erste Rechnung. Die zweite war geradeso abgefaßt.


£s.d.

Drei Monate Wohnung und Pension im

Hause zu zwanzig s. die Woche, macht1200

Für die Kinderfrau für den Monat und

die Benutzung der Kindbettwäsche mit

Spitzenzeug usw.2100

Für den Geistlichen bei der Taufe usw.2 00

Für das Abendessen, Wein, Konfekt3 30

Für die Gebühren usw.5 50

Für das Dienstmädchen1 00

–––––––––––––––––

£26180


Die dritte Rechnung war noch einen Grad höher, für den Fall, daß der Vater oder Freunde erschienen.


£s.d.

Drei Monate Wohnung und Pension im

Hause für zwei Zimmer und ein

Dienstbotengelaß, macht30 00

Für die Kinderfrau für den Monat und die

allerbeste Garnitur Kindbettwäsche usw. 4 40

Für den Geistlichen usw. 2100

Für das Abendessen 6 00

Für die Gebühren usw.10100

Für das Dienstmädchen nur 0100

–––––––––––––––––

£53140


Ich las die drei Rechnungen durch, lächelte und sagte, sie sei in ihren Anforderungen ja sehr vernünftig, und ich zweifelte nicht, daß alle ihre Einrichtungen sehr gut seien.

Sie sagte mir, ich würde das ja sehr bald nach dem Augenschein beurteilen können, worauf ich erwiderte, ich müsse ihr leider gestehen, daß ich nur[210] für die niedrigste Taxe bei ihr wohnen könne und fürchtete, deshalb weniger willkommen zu sein.

»Oh nein, durchaus nicht,« erwiderte sie, »denn wo ich eine für die erste Klasse habe, habe ich zwei für die zweite und vier für die dritte, und ich verdiene im Verhältnis an diesen ebensoviel, wie an den anderen. Wenn Sie jedoch irgendwie zweifeln, bei mir gut aufgehoben zu sein, können Sie ja in der Zeit Bekannte einladen, damit sie nachsehen, ob Sie auch in allem gut gewartet werden, oder nicht.«

Darauf erklärte sie mir die Einzelheiten der Rechnung. »In der dritten Klasse, Madam«, sagte sie, »zahlt man also zehn s. die Woche für Wohnung und Pension, und ich darf wohl im voraus behaupten, daß Sie mit meinem Tisch zufrieden sein werden. Sie leben jetzt gewiß auch nicht billiger.«

»Nein,« entgegnete ich, »denn ich zahle sechs Schilling die Woche für mein Zimmer und beköstige mich selbst, was mich natürlich mehr als vier Schilling kostet.«

»Und dann, Madam,« fuhr sie fort, »wenn das Kind nicht leben sollte, was ja oft vorkommt, sparen Sie das Geld für den Geistlichen, und wenn Sie keine Freunde haben, können Sie auch das Taufessen noch sparen. Wenn Sie also diese beiden Posten noch abziehen, Madam, kostet Sie Ihre Niederkunft nur 5 £ und 3 Schilling mehr, als Ihr gewöhnlicher Lebensunterhalt.«

Vernünftiger konnte man mir in meiner Lage nicht zusprechen, deshalb lächelte ich wieder und sagte, ich wolle gewiß gern in ihr Haus kommen. Da ich aber noch zwei Monate oder noch länger zu warten habe, wäre es vielleicht nötig, daß ich länger als die drei Monate bei ihr bliebe, und deshalb wolle ich vorher wissen, ob sie mich auch so lange, als es nötig sei, bei sich behalten könne.

Ja, sagte sie, ihr Haus sei groß, und sie veranlasse auch nie jemanden, der bei ihr niedergekommen sei, eher wegzugehen, als es selbst gewünscht werde und wenn sich auch vielleicht einmal ganz besonders viele Damen bei ihr anmelden würden, so sei sie[211] nicht so unbeliebt bei ihren Nachbaren, als daß sie nicht jederzeit den Damen bei diesen Aufnahme verschaffen könne.

Ich fand, daß sie tatsächlich eine außerordentlich brauchbare Frau in ihrem Berufe war und kam also, wie gesagt, mit ihr überein, ihre Pensionärin zu werden. Darauf sprach sie von anderen Dingen, betrachtete meine Wohnung, fand, daß ich nicht genügend bedient und gepflegt würde, und daß ich es in ihrem Hause gewiß besser haben solle.

Ich antwortete, ich sei zu schüchtern, irgend etwas zu verlangen, denn die Wirtin behandele mich so kühl, es komme mir wenigstens so vor, seit ich krank sei und sie mich schwanger wisse, und ich fürchte, sie werde mich noch beleidigen, da ich ihr nur geringe Auskunft über mich habe verschaffen können.

»Ach du lieber Gott«, entgegnete sie, »die Frau Hauswirtin steht solchen Dingen durchaus nicht jo fremd gegenüber. Sie hat selbst schon einmal den Versuch gemacht, Damen in Ihren Umständen bei sich aufzunehmen, doch konnte sie der Kirchspielverwaltung nicht die genügende Sicherheit bieten. Da Sie ja aber nicht mehr lange hier bleiben, so lassen Sie sich erst nicht weiter mit ihr ein, ich werde schon dafür sorgen, daß Ihnen, so lange Sie noch hier sind, ein wenig besser aufgewartet wird – und es soll Sie darum nicht mehr kosten.«

Ich verstand nicht, was sie damit sagen wollte, doch dankte ich ihr einfach und wir trennten uns. Am folgenden Morgen schickte sie mir ein gebackenes warmes Hühnchen und eine Flasche Sherry und hatte dem Mädchen aufgetragen, mir zu sagen, Sie werde nun jeden Tag, solange ich noch da sei, bei mir aufwarten.

Das klang allerdings liebenswürdig, und ich nahm dies Anerbieten gerne an. Am Abend schickte sie noch einmal und ließ fragen, ob ich irgend etwas bedürfe, und sagen, sie werde mir am folgenden Tage das Mittagessen schicken; des Morgens jedoch mußte mir ihr Mädchen erst noch Schokolade kochen. Zu Mittag brachte sie mir dann Kalbsbröschen und[212] eine Schüssel Suppe, und in dieser Weise sorgte sie eine ganze Zeitlang für mich, so daß ich heiter wurde und mich bald ganz erholte, denn meine Krankheit hatte wirklich großenteils ihren Grund nur in meiner Niedergeschlagenheit gehabt.

Ich erwartete, daß das Mädchen, wie es bei solchen Leuten gewöhnlich der Fall ist, sich als irgend ein freches Weibsbild herausstellen werde; ich wollte sie auch zuerst nicht bei mir übernachten lassen und hielt, solange sie da war, die Augen offen, als sei es schon ausgemacht, daß sie stehle. Meine Pflegerin fühlte aber gleich am ersten Tage heraus, was ich befürchtete, und schickte das Mädchen mit einem kleinen Zettelchen zurück, auf dem sie geschrieben, ich könne mich auf die Ehrlichkeit des Mädchens durchaus verlassen, sie übernehme in jeder Weise die Verantwortung für dasselbe; und sie setzte noch in einer Fußnote hinzu, sie verpflichte übrigens nie einen Dienstboten, der ihr nicht eine genügende Sicherheit böte. Ich war nun vollständig beruhigt und bemerkte auch bald, daß das Betragen des Mädchens für sich selbst sprach; wie es sich denn auch später noch als ein solch bescheidenes, ruhiges und nüchternes Mädchen zeigte, wie nur je eins sich in eine Familie vermietet hat.

Sobald ich nun wohl genug war, um ausgehen zu können, ging ich mit dem Mädchen in das Haus, um das Zimmer in Augenschein zu nehmen, in dem ich wohnen sollte. Ich fand dort alles so hübsch und so sauber, daß ich nicht das geringste auszusetzen hatte, und war über Alles zusammen außerordentlich glücklich, denn in Anbetracht der traurigen Umstände, in denen ich mich befand, hätte ich eine solche Fügung ja gar nicht erhoffen dürfen.

Man könnte nun erwarten, daß ich einen Bericht über die verworfenen Handlungen der Frau, in deren Hände ich jetzt gefallen war, geben würde. Es würde jedoch das Laster zu sehr ermutigen, wenn man die Welt sehen ließe, wie leicht man es sich hier machte, um eine Frau von einem heimlich empfangenen Kinde zu befreien. Diese biedere[213] Matrone wußte mehrere Auswege. Einer davon war der, daß sie, wenn ein Kind außer ihrem Hause geboren wurde – sie wurde nämlich auch oft privatim gerufen, – stets Leute in Bereitschaft hatte, die für ein Stück Geld das Kind ihr und der Sorge der Verwaltung abnahmen. Für diese Kinder wurde, wie sie sagte, ehrlich gesorgt. Allerdings konnte ich mir das, in Anbetracht der großen Zahl derer, die meine Pflegerin zu befördern hatte, kaum denken.

Ich sprach sehr oft mit ihr über diese Dinge. Sie verteidigte sich jedoch immer damit, daß sie das Leben manch eines unschuldigen Wurmes rette, das sonst wohl elend umkommen müßte, und vielleicht das Leben mancher Frau dazu, die vom Unglück niedergebrochen sich und ihrem Kinde ein Leid antun würde. Ich mußte zugeben, daß dies wahr sei und ihre Handlungsweise sogar rühmenswert wäre, wenn die Kinder wirklich in gute Hände kämen und nicht von ihren Pflegerinnen gemißbraucht und vernachlässigt würden. Sie antwortete, sie sorge immer dafür und stehe nur mit Kinderfrauen in Verbindung, die ein Herz, so gut wie das einer Mutter, hätten und als verläßlich erprobt seien. Ich konnte ihr darauf nichts erwidern und sagte deshalb nur: »Madam, ich zweifle ja nicht, daß Sie ihre Pflicht tun, es kommt nur darauf an, ob auch diese Leute die ihrige erfüllen ...« Sie schnitt mir jedoch das Wort ab und wiederholte nur noch einmal, daß sie, wie in allem und jedem, so auch in der Auswahl der Kinderfrauen mit äußerster Gewissenhaftigkeit vorgehe.

Das einzige, das mich in all unseren Unterhaltungen über diese und ähnliche Dinge unangenehm berührte, war, daß sie mir einmal, als wir über meinen vorgeschrittenen Zustand sprachen, irgend etwas sagte, das so zu verstehen war, als wolle sie mir auch gerne früher von meiner Bürde loshelfen, wenn ich einverstanden wäre, oder klar heraus: als könne und wolle sie mir etwas eingeben, das eine Frühgeburt herbeiführen würde, so daß dann allen[214] meinen Beschwerden ein schnelles Ende gemacht sei. Ich gab der Frau jedoch gleich zu verstehen, daß bei mir der bloße Gedanke an einen solchen Ausweg schon Abscheu errege. Daraufhin wandte sie die Unterhaltung so geschickt, daß ich hernach nicht einmal sagen konnte, ob sie mir wirklich einen derartigen Vorschlag gemacht, oder ob sie selbst gleich von vornherein eine derartige Handlungsweise als etwas Widerwärtiges hingestellt habe; denn auf jeden Fall erfaßte sie meine Ansicht so schnell und deutete ihre Worte so gut um, daß sie, noch ehe ich mich näher erklären konnte, schon ihrer eigenen Abneigung gegen das, wozu sich andere Hebammen wohl bereit finden lassen mochten, einen schnellen Ausdruck gegeben hatte.

Um kurz zu sein – ich verließ also meine Wohnung in der St. Jones's und zog zu meiner neuen Pflegerin; und ich wurde dort in der Tat mit soviel Höflichkeit und Aufmerksamkeit behandelt und hatte es in allen Dingen so gut, daß ich ganz überrascht war und nicht verstehen konnte, wie die Frau auf ihre Kosten kam. Später erklärte sie mir dann, daß sie an der Beköstigung ihrer Pensionäre allerdings auch nichts verdiene, sondern nur an deren Behandlung, an der Miete und an der Lieferung all der Sachen, die nötig waren, der Wäsche und so fort. Doch kann ich Ihnen versichern, daß das noch immer genug war, denn es ist kaum glaublich, welch große Praxis sie hatte; und zwar nur Privatpraxis, oder gerade heraus gesagt, Praxis bei Huren.

Während meines Aufenthaltes in ihrem Hause, der ungefähr vier Wochen währte, nahm sie nicht weniger als zwölf solcher galanter Damen zur Entbindung bei sich auf und stand wohl ungefähr zweiunddreißig anderen außerhalb des Hauses bei.

Diese Zahlen können zugleich Zeugnis geben von der wachsenden Lasterhaftigkeit der Zeit; und so schlecht ich auch selbst gewesen, so widerten mich die Verhältnisse, in die ich da Blicke tat, doch in tiefster Seele an; der Ort, an dem ich mich befand, und die ganze Art der »Praxis« dort, wurden mir[215] immer unerträglicher, obwohl ich gestehen muß, daß ich in dem Hause selbst nie die geringste Unanständigkeit gesehen habe und auch nicht glaube, daß dort jemals etwas vorkam, was Ärgernis geben konnte: nie kam ein Mann die Treppe herauf, ausgenommen, wenn ein Herr eine der Wöchnerinnen besuchen wollte, und dann kam stets meine Frau mit ihm ins Zimmer, denn sie machte es sich geradezu zur Ehrensache, wie sie sich ausdrückte, daß kein Mann in ihrem Hause eine Frau, die in den Wochen lag, auch nur anrühre, und wenn es seine eigene wäre; als Grund gab sie an, es sei ihr gleich, wie viel Kinder in ihrem Hause geboren würden, doch wolle sie nicht, daß eins dort erzeugt werde.

Sie ging vielleicht sogar ein wenig zu weit, doch war diese Übertreibung von sehr großem Nutzen für sie, denn sie bewahrte sich dadurch ihren Ruf, und man konnte nur von ihr sagen, daß sie, wenn sie sich auch der lasterhaftesten Frauen annahm, doch durchaus nicht deren Werkzeug bei Ausübung des Lasters war oder ihm irgendwie Vorschub leistete. Dabei war es aber doch ein übles Geschäft, das sie betrieb.

Während ich in ihrem Hause lebte, kurz vor meiner Niederkunft, erhielt ich einen Brief von meinem braven Spießbürger, der voller Verbindlichkeiten war und in dem er mich dringend bat, doch bald nach London zurückzukehren; der Brief war fast vierzehn Tage alt, als er mich erreichte, denn er war nach Lancashire adressiert und mir von dort zugesandt worden; er enthielt zum Schluß die Nachricht, das er ein obsiegendes Urteil gegen seine Frau erstritten habe, und daß er bereit sei, die Versprechungen, die er mir gemacht, nunmehr einzulösen, wenn sich nicht inzwischen meine Gefühle gegen ihn geändert hätten – was er aber nicht hoffe. Dann folgten sehr viele Beteuerungen seiner eigenen Zuneigung, die er gewiß nicht gemacht hätte, wenn er gewußt, in welchen Umständen ich mich befand, und wie ich seine Liebe und Treue so gar nicht verdiente.

Ich beantwortete diesen Brief sofort, datirte[216] mein Schreiben Liverpool und schickte es durch einen verläßlichen Boten in sein Haus, dem Boten war eingeschärft, zu sagen, das Schreiben sei mit anderen an einen meiner Bekannten nach London gekommen. Ich gab in diesem Schreiben meiner Freude über die glückliche Wendung Ausdruck, die sein Scheidungsprozeß genommen, tat aber, als habe ich Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer neuen Heirat und schloß damit, ich setzte voraus, er werde sich einen solchen Plan reiflich überlegen; derselbe sei zu wichtig und bleibe zu folgenschwer, als daß ein vernünftiger Mann an seine Ausführung gehen könne, ohne vorher alle Gründe für und wider gründlichst abgewogen zu haben. Dann meinte ich noch, daß ich ihm, was er auch immer beginnen werde, das Beste wünsche, davon könne er überzeugt sein. So ließ ich ihn in meine wahren Gedanken nicht hineinsehen und antwortete auch gar nicht auf seinen Vorschlag, nach London zurückzukehren, sondern drückte bloß oberflächlich die Absicht aus, gegen Ende des Jahres wiederzukommen. Wir befanden uns damals im April, und Mitte Mai kam ich dann nieder: ich wurde wieder von einem kräftigen Knaben entbunden und befand mich den Umständen nach sehr wohl; meine Pflegerin erfüllte ihre Aufgabe als Hebamme mit der größten Kunst und Geschicklichkeit und unvergleichlich viel besser, als ich je vorher es für möglich gehalten und selbst erfahren hatte.

Ihre Fürsorge während der Wehen und später während des Wochenbettes für mich war derartig, daß ich bei meiner eigenen Mutter nicht besser aufgehoben gewesen wäre. Es möge sich jedoch niemand durch die Geschicklichkeit dieser Frau in seinem losen Lebenswandel ermutigen lassen, denn sie ist längst dahingegangen, und ich glaube, sie hat nichts hinterlassen, was ihr in's Jenseits nachkommen kann.

Etwa zwanzig Tage nach meiner Niederkunft empfing ich wieder einen Brief von meinem braven Spießbürger mit dem Bescheid, daß er tatsächlich ein endgültiges Scheidungsurteil gegen seine Frau[217] erstritten habe, und all meinen Bedenken betreffs seiner Wiederverheiratung könne er nun mit einer Antwort begegnen, die ich gewiß nicht erwarte, und die er mir auch nicht gerade mit Freuden geben könne: seine Gattin habe sich nämlich, als sie die Nachricht von dem Gerichtsbeschluß erhalten, wohl von Gewissensbissen ergriffen, noch am selben Abend eigenhändig umgebracht.

Er sprach nun in Ausdrücken, die ihn sehr ehrten, von seinem Anteil an ihrem Unglücke, reinigte sich jedoch von jedem etwaigen Vorwurf, dasselbe mit verschuldet zu haben. Er betonte, daß er sich nur sein Recht und Gerechtigkeit verschafft habe, weil er vorher schwer gekränkt und in seiner Güte mißbraucht worden sei. Nichtsdestoweniger bedaure, ja betrauere er das jetzt Vorgefallene ... und er habe keine Hoffnung, je auf dieser Erde noch einmal glücklich zu werden, wenn nicht ich ihm das Glück gebe, wenn nicht ich zu ihm komme und ihm in seiner Einsamkeit Trost und Stütze werde. Dann bat er auf das Inständigste, ihm doch wenigstens einige Hoffnung zu geben, zum mindesten nach London zurückzukehren, damit er mich sehen und mit mir über unsere Verheiratung sprechen könne.

Diese Nachricht überraschte mich allerdings. Und ich begann sofort über die Verhältnisse, wie sie nun lagen, ernsthaft nachzudenken, vor allem mir klar zu machen, daß ich jetzt auch noch für ein Kind zu sorgen hatte. Ich wußte nicht – wohin mir ihm? Schließlich entschloß ich mich, meine Sorgen meiner Pflegerin anzuvertrauen, wenn auch mit Vorsicht. Ich wurde ein paar Tage lang sehr traurig, sie bemerkte es sofort und drang nun in mich, ihr doch meinen Kummer mitzuteilen. Nachdem ich ihr so oft erzählt, daß ich schon einen Gatten hatte, konnte ich ihr nicht gut sagen, daß man mir einen Heiratsantrag gemacht und daß dieser mich in meine Not und Ratlosigkeit gebracht. So gestand ich ihr dann zunächst einmal, daß ich allerdings an einem Kummer litte, daß er aber von[218] einer solchen Art sei, daß ich mit keinem lebenden Wesen über ihn reden könne. Sie aber ließ sich nicht zurückweisen, sondern drang immer mehr in mich, während ich umgekehrt regelmäßig antwortete und dabei blieb, ich könne mein Geheimnis niemandem verraten. Das ging so mehrere Tage hindurch. Und immer wieder kam sie – ganz wie ich wollte – und versicherte mir, daß man ihr schon die größten und schwersten Geheimnisse anvertraut habe, daß ihr Geschäft das mit sich bringe, ebenso wie ihr Geschäft es verlange, daß sie zu niemandem von diesen Geheimnissen sprach: ja, es würde sie ihre ganze Existenz kosten, wenn sie je etwas verriet. Und sie fragte mich auch, ob ich sie je von den Angelegenheiten anderer Leute hätte schwatzen hören? Ja, sie beklagte sich geradezu, wie ich nur überhaupt dergleichen von ihr annehmen könne! Wenn ich mich ihr anvertraute, sei es so gut, als hätte ich mich niemandem anvertraut; und vor allem, davon dürfe ich überzeugt sein: es müsse schon eine sonderbare Angelegenheit sein, wenn sie mir in derselben nicht helfen könne! Wenn ich jedoch weiter schweige, so beraubte ich mich selbst der Möglichkeit, daß mir geholfen werde und nähme ihr die Gelegenheit, mir zu helfen. Kurz, sie wandte eine solch überzeugende Beredsamkeit und eine derartige Kraft der Überzeugung auf, daß es ganz unmöglich und auch töricht gewesen wäre, ihr auf die Dauer meine Sorgen zu verbergen.

So beschloß ich denn also, ihr mein Herz auszuschütten und erzählte ihr von meiner Heirat in Lancashire, und wie wir beide dabei betrogen worden seien, wie wir wieder zusammengekommen, und wie wir uns zum Schluß doch getrennt hätten; wie mein Gatte mich frei gegeben und mir gestattet habe, mich wieder zu verheiraten, indem er mir beteuerte, er werde nie wieder Anspruch auf mich machen, noch mich je in einer neuen Verbindung stören ... Ich halte mich denn auch selbst für frei, habe aber trotzdem eine schreckliche Angst, eine neue Verbindung einzugehen – aus Furcht vor einer Entdeckung.[219]

Dann erzählte ich ihr, welch gutes Anerbieten mir gemacht worden, zeigte ihr, nachdem ich die Unterschrift ausradiert, den Brief meines Freundes, indem er seiner Zuneigung so lebhaften Ausdruck verliehen und mich nach London eingeladen hatte. Von seiner Frau sagte ich ihr bloß, daß sie tot sei.

Sie lachte über meine Bedenken und meinte: ich sei in Lancashire ja gar keine Heirat eingegangen, das sei ja nichts als ein gegenseitiger Betrug gewesen; und da wir mit gemeinsamem Einverständnis wieder auseinander gegangen wären, habe das den Heiratskontrakt durchaus aufgehoben und uns jeder weiteren Verpflichtung zu einander entbunden. O, der Mund ging ihr über von einer ganzen Menge von Gründen und Beweisen, die sie vorbrachte, und sie schwätzte mich ordentlich um mein ganzes eigenes Urteil – wobei ihr meine Wünsche allerdings nur zu gerne behülflich waren.

»Die einzige wirkliche Schwierigkeit«, sagte sie, »bildet das Kind. Das muß unbedingt entfernt werden, und zwar so, daß es niemandem möglich ist, je auf die Vermutung zu kommen, daß es überhaupt da ist!«

Ich wußte selbst zu gut: die Heirat hing davon ab, daß mein braver Spießbürger mich arg- und ahnungslos nahm. Brachte ich ihm das Kind, so mußte dessen Alter sofort verraten, daß es geboren worden sei in der Zeit, in der ich ihn schon kannte – und damit wäre jede weitere Beziehung zwischen mir und ihm unmöglich geworden.

Anderseits schnitt der Gedanke, mich auf immer von dem eben Geborenen trennen zu müssen, mir so ins Herz, daß ich glaube, der Gedanke, es umzubringen, es etwa künstlich verhungern zu lassen, wäre mir nicht schrecklicher gewesen. Und im Grunde bedeutete beides ja wohl auch dasselbe. Ich wünschte deshalb, alle Frauen, die sich ihrer Kinder freiwillig entledigen, sie möchten sich klar darüber werden, daß dies fast immer nur eine langsamere und sichere Art von Mord bedeutet, eine bequemere und ungefährlichere.[220]

Jeder Mensch, der nur etwas von kleinen Kindern versteht, weiß, daß sie vollkommen hilflos in diese Welt geboren werden, daß sie nicht fähig sind, ihre Bedürfnisse zu stillen, ja noch nicht einmal, sie deutlich zu machen. Ohne die Hilfe von Erwachsenen müssen sie elend umkommen. Diese Hilfe nun erfordert nicht nur eine gütige, zärtliche Hand, sondern mit der Liebe müssen sich noch Sorgfalt und Geschicklichkeit vereinen – sonst würde wohl die Hälfte aller Kleinen sterben, auch dann, wenn man es nicht gerade an Nahrung fehlen ließe, und von der Hälfte derer, die am Leben erhalten blieben, dürfte wieder die Hälfte zu verkrüppelten oder schwachsinnigen Menschen werden. Deshalb legte auch ohne Zweifel die umsichtige Natur die Liebe in das Herz der Mütter: nicht anders wäre es möglich, daß sie sich ganz selbst vergessen und all die Mühen der stündlichen Verrichtungen und der Nachtwachen auf sich nehmen könnten, die ein Kleines erfordert.

Ja, Liebe, Sorgfalt und Geschicklichkeit sind nun einmal nötig, um ein Kind, nachdem es geboren ist, bei lebendigem Leibe und gesund zu erhalten. Und deshalb heißt es einfach, das Kind morden, wenn man die Liebe verleugnet und Sorgfalt und Geschicklichkeit außer Acht läßt, indem man das Kind fremden Leuten zur Aufziehung gibt, die die Liebe nicht wohl haben können und deshalb auch die Wartung nicht so zu besorgen vermögen, wie es notwendig ist. Werden doch nicht selten sogar Kinder geradezu in der Absicht fortgegeben, ihr Leben durch schlechte Pflege zu gefährden! Und ob es nun stirbt oder nicht, es ist und bleibt ein beabsichtigter Mord.

Alles dies bewegte mich, und ich muß gestehen, es erregte mich sehr. Da ich aber mit meiner Pflegerin – die ich »Mutter« zu nennen mich gewohnt hatte – offen reden konnte, sagte ich ihr, was für dunkle Gedanken mich quälten, und gab ihr zu verstehen, welchen Kummer mir meine Lage bereite.

Sie schien dieselbe denn auch ernst zu nehmen, viel ernster als meine Bedenken wegen der Heirat.[221] Da sie jedoch in solchen Verhältnissen schon sehr erfahren war und ihre Erfahrungen sie im Laufe der Zeit hart gemacht haben mochten, war sie weicheren Regungen nicht zugänglich und mochte die mütterliche Zuneigung zu den Kindern nicht als die einzige gelten lassen. Sie fragte mich, ob sie denn während meines Wochenbettes nicht genau so liebevoll und zärtlich zu mir gewesen sei, wie eine wirkliche Mutter, und ob ich es nicht gehabt habe, wie ihre richtige Tochter?

Ich konnte ihr die Frage nur bejahen.

»Nun denn, meine Liebe« fragte sie weiter, »was sind Sie mir, wenn Sie wieder von mir fortgehen? Was könnte es mich kümmern, wenn es Ihnen dann im Leben so schlecht erginge, wie es einem Menschen nur ergehen kann? Wenn Sie meinetwegen am Galgen endeten? Glauben Sie denn nicht, daß es Frauen gibt, die, bloß weil es ihr Geschäft ist und weil sie ihr Brod damit verdienen, sich eine Ehre daraus machen, alle, welche zu ihnen in Pflege kommen, so liebevoll und aufmerksam zu behandeln, wie es die eigene Mutter nur immer konnte? Ja ja, mein Kind,« fuhr sie fort »hab' mir nur keine Angst, wir werden schon sehen! Übrigens – wie wurden wir denn aufgezogen? Bist du denn sicher, ob du von deiner eigenen Mutter gepflegt worden? Und dennoch siehst du schön und blühend aus!« Bei diesen Worten streichelte sie mir über das Gesicht. »Mach dir also gar keine Sorgen. Ich stehe mit keinen Gesindel, nicht mit Dieben und Mördern in Verbindung; nein, die allerbesten Kinderfrauen weiß ich, die es nur gibt, und nicht mehr Kleine sterben unter ihren Händen, wie unter den Händen der Mütter auch; zudem hat ihnen die jahrelange Übung einen Blick und eine Geschicklichkeit gegeben, die den Müttern notwendig abgehen.« Die Frau hatte mich, wie Sie sich denken können, ins Innerste getroffen, als sie mich fragte, ob ich denn auch sicher sei, als Kind einst von meiner[222] eigenen Mutter gepflegt worden zu sein. Ich wußte ja nur zu genau, wie das ganz und gar nicht der Fall gewesen; und so wurde ich denn blaß und zitterte ... Diese Frau kann doch keine Hexe sein, fragte ich mich, sie kann doch nicht mit Geistern in Verbindung stehen, die ihr verraten, wer ich bin, wo ich damals gewesen, als ich selbst noch zu jung war, um es heute recht zu wissen? Und ich blickte sie ganz erschrocken an. Dann aber sagte ich mir, daß es ja ganz unmöglich sei und töricht, anzunehmen, sie wüßte mehr von mir, als ich selbst ihr erzählt. Das beruhigte mich dann, und meine Aufregung legte sich.

Doch hatte die Frau sie wohl bemerkt, nur verstand sie den Grund natürlich nicht oder nahm einen andern an.

Und so fuhr sie denn fort, mir klar zu machen, wie durchaus unberechtigt meine Annahme sei, daß Kinder, die nicht von der eigenen Mutter aufgezogen würden, nun unter allen Umständen schlecht aufgezogen werden müßten oder gar gleich Mördern ins Gewerbe gerieten. Und immer wieder und wieder betonte sie, es sei die Möglichkeit vorhanden, daß überhaupt gar kein Unterschied wäre zwischen der Pflege durch eine wirkliche Mutter und der durch eine Kinderfrau.

»Es mag wahr sein, liebe Mutter«, sagte ich dann, »aber trotzdem glaube ich, daß auch an meinen Bedenken Wahres ist.«

»Nun, so laß hören!«

»Sieh,« sagte ich, »man zahlt doch Leuten Geld dafür, daß sie Eltern ein Kind abnehmen und, so lange es lebt, für das Kind sorgen. Nun sind's aber doch immer arme Leute, denn andere geben sich wohl mit so was nicht ab; sie verdienen also an dem Geld noch mehr, wenn sie es nicht auf das Kind zu verwenden brauchen; und stirbt es, so haben sie den größten Vorteil davon; kann man da überhaupt noch zweifeln, daß sie nicht allzu besorgt sein werden, das Kind bei Leben und Wohlsein zu erhalten?«[223]

»Ach was! das denkst du dir so!« versetzte sie darauf. »Vergiß doch nicht, daß erstens ihr Ansehen und zweitens ihr Geschäft davon abhängt, daß sie in den Ruf kommen und in ihm bleiben, die Kinder hätten es bei ihnen gut. Schon deshalb allein werden sie die Kinder so pflegen, wie eine Mutter auch!«

»Ach«, entgegnete ich, »wenn ich nur die Gewißheit hätte, daß mein Kleines es nicht schlecht bekäme ... Wie wäre ich glücklich! Aber ich weiß, ich würde keine Ruhe haben und mich jeden Augenblick überzeugen müssen, daß das süße Ding es auch gut hat, und das kann ich nun wieder nicht, denn dann würde ja alles herauskommen!«

»Das ist mir eine schöne Geschichte: du möchtest das Kind immer sehen und möchtest es wieder nicht sehen, du möchtest es verbergen und es doch zugleich immer wieder aufsuchen! Aber beides zusammen geht nun einmal nicht, meine Liebe, und so bleibt also wohl nichts anderes übrig, als daß du tust, wie ja wohl allzu gewissenhafte Mütter vor dir auch getan haben, daß du dich zufrieden mit den Dingen gibst, wie sie nun einmal liegen, da sie nicht sein können, wie du wünschest, daß sie wären.«

Ich verstand wohl, daß sie mit den allzu gewissenhaften Müttern allzu gewissenhafte Dirnen meinte. Doch wollte sie mir damit nichts zur Kränkung sagen. Auch war ich ja jetzt gar keine Dirne, sondern mit meinem letzten Geliebten rechtmäßig verheiratet, wenigstens wenn man von meinen früheren und immer noch gültigen Ehen absah. Doch wie dem nun auch sein mochte – auf jeden Fall waren meine Gefühle nicht roh und verrottet, wie die einer Dirne, ich war nicht unnatürlich genug und hatte zu viel Herz, um nicht über das Wohl und Wehe meines Kleinen wachen zu wollen; ja, meine Liebe zu ihm war so groß, daß ich beinahe schon meinem braven Spieszbürger eine ablehnende Antwort geschickt hätte ... trotzdem er so inständig drängte, ich solle nach London zurückkehren und ihn heiraten, daß ich gar nicht gewußt hätte, wie ich meine Abweisung begründen sollte.[224]

Aber meine Pflegerin wußte mich richtig zu behandeln und aufernünftigere Gedanken zu bringen. »Komm!« rief sie aus, »komm, meine Liebe, ich habe einen Ausweg gefunden! Du wirst dir Sicherheit schaffen können, daß man das Kind gut behandelt und die Leute, die es für dich pflegen sollen, werden noch nicht einmal wissen, daß du seine Mutter bist!«

»Ach!« rief ich darauf aus, »wenn du das tun könntest, würde ich dir zu ewigem Dank verpflichtet sein!«

»Würdest du dich denn zu einem kleinen jährlichen Betrag verstehen, zu etwas mehr, als man den Leuten gewöhnlich gibt?«

»Aber natürlich! Wenn nur niemand weiß, daß ich die Mutter bin –«

»Darüber kannst du ganz vollständig beruhigt sein. Die Pflegefrau wird nicht wagen, das sag ich dir, je nachzuforschen, wer du bist. Und du kannst ein-, zweimal das Jahr mit mir das Kind heimlich besuchen und dich überzeugen, daß es ihm gut geht, ohne daß, wie gesagt, jemand erfährt, wer du bist.«

»Aber glaubst du denn, ich könnte, wenn ich mein Kleines nun wieder sehe, verbergen, daß ich die Mutter bin? Hältst du das überhaupt für möglich? Und daß die Kinderfrau nichts merken sollte?«

»Nun, wenn du es nicht kannst, so wird die Kinderfrau darum noch nicht klüger sein. Ich werde ihr zu verstehen geben, daß sie überhaupt nichts zu merken hat, geschweige denn, zu reden, wofern sie nicht das Geld, das du ihr jährlich zahlst, verlieren will ... Wir würden dann eben einfach das Kind einer anderen Kinderfrau übergeben.«

Dieser Vorschlag gefiel mir nun sehr gut; und es kam auch schon gleich in der nächsten Woche eine Bauersfrau aus der Gegend von Hertford an, die das Kind für den Preis von zehn Pfund nehmen wollte. Für fünf weitere Pfund jährlich verpflichtete sie sich, das Kind, so oft wir wünschten, in das Haus meiner Pflegerin zu bringen. Auch sagten wir, daß wir sie selbst bisweilen aufsuchen[225] würden, um uns an Ort und Stelle zu überzeugen, ob sie mein Kleines auch wirklich gut behandele.

Die Frau war ein großes, starkknochiges und gesund aussehendes Geschöpf. Sie trug saubere Kleider und gutes Leinenzeug, so daß sie keinen schlechten Eindruck auf mich machte.

Mit schwerem Herzen und heftig weinend übergab ich ihr also mein Kind.

Vorher war ich selbst noch in Hertford bei ihr gewesen und hatte mir ihre Wohnung genau angesehen, die den guten Eindruck, den das Äußere der Frau gemacht, nur bestätigen konnte.

Ich gab ihr also das Kind und versprach ihr gar mancherlei, wenn es sich zeigen würde, daß sie wirklich gut zu ihm sei.

Die Frau merkte natürlich sofort heraus, daß ich die Mutter war; doch sagte ich mir, daß das ja schließlich nichts schaden könne, im Gegenteil. Außerdem wohnte sie so weit ab und hatte so gar keine Gelegenheit, sich nach mir zu erkundigen, daß ich mich noch immer für sicher genug halten konnte.

So zahlte ich ihr denn die zehn Pfund, oder vielmehr, ich ließ sie ihr durch meine Pflegerin und vor meinen Augen geben. Die Frau verpflichtete sich dagegen, mir das Kind nie wiederzubringen ... Ja, sie sagte sogar, sie wollte gerne auf die jährliche Zahlung der fünf Pfund verzichten – so lieb habe sie das Kind jetzt schon gewonnen.

Ich aber sagte, ich würde ihr, wenn es sich herausgestellt hätte, daß das Kind gut bei ihr aufgehoben sei, jedesmal, wenn ich zu Besuch vorspräche, eine Summe als Vergütung geben. Verpflichtet war ich also dazu nicht mehr, immerhin versprach ich's.

Damit war ich meine große Sorge los. Und wenn mein Herz auch nicht zufrieden war, als die Frau mit meinem Kinde davon ging, so hatte ich doch den einzigen möglichen Ausweg gefunden.

Quelle:
Daniel De Foe: Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders. Berlin [1903]., S. 203-226.
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