Bergpsalm

[159] Der Sturm hat seine Schlangen losgelassen –

in langen Wogen rauschen Gras und Rohr –

es zischt der See – die Weiden, silberblassen

zerwühlten Hauptes, seufzen laut empor.

Empor, empor! dort wo die Kiefern sausen,

auf kahler Höhe will ich einsam stehn –

und meine ferne Heimat dämmern sehn –

und hören, wie die dunkeln Wolken brausen.


Ihr grauen Pilger über mir – wohin?

O könnt' ich fassen eure rollenden Locken,

wie ihr ausschütten in den Sturm – aus Sinn

und Seele – meiner Dumpfheit Nebelflocken![159]

O meine Heimat –! schimmernd winkt der Fluß

und grüßt zum Himmel aus dem Blau der Bäume,

wie aus dem Zauberwald der Kinderträume

der Mutter Blick, der Mutter reiner Kuß ...


Was weinst du, Sturm?! Hinab, Erinnerungen!

dort pulst im Dunst der Weltstadt zitternd Herz!

es zuckt ein Schrei auf Millionen Zungen

nach Glück und Frieden: Wurm, was will dein Schmerz!

nicht sickert Einsam mehr von Brust zu Brüsten

aus stiller Tiefe nur der Sehnsucht Quell:

heut stöhnt ein Volk nach Liebe, wild und gell, –

und Du kannst schwelgen noch in Wehmutslüsten?!


siehst du den Qualm mit dicken Fäusten drohn

dort überm Wald der Schlote und der Essen?

auf deine Reinheitsinbrunst schwarz ein Hohn

der Arbeit, deren Geist ihr Schmutz zerfressen!

Du hast gebuhlt mit deiner Sehnsucht bloß,

in dumpfer Glut dich selber nur genossen:

schütt' aus den Segen, der dir zugeflossen,

und deine Sünde stirbt im Eignen Schooß! –


Und blutig glüht es um die zackigen Türme,

ein Dornenkranz umflammt die Stirn der Stadt;

ein goldner Fächer scheucht die Wolkenstürme,

herniedersprießt ein Sonnenpalmenblatt.

O Herz der Weltstadt, Millionenstimme,

die gell nach Brot vor Seelenhunger schreit:

hinquillt wie Heilandsblut in diese Zeit,

der Strom der Liebe quillt aus deinem Grimme!


Den Kelch des Schweißes seh' ich geistverklärt,

das Kreuz der Mühsal blütenlaubumflattert – –

Was lacht der Sturm?! Im Rohr der Nebel gärt,[160]

knarrend die Kiefer ächzt, mein Mantel knattert:

Empor aus deinem Rausch! Wünsche, ins Grab!

nicht laß in Träumen deine Glut vermodern,

laß du aus Thaten deinen Glauben lodern! –

Empor, mein Geist! Hinab, mein Herz – – hinab!

Quelle:
Richard Dehmel: Erlösungen, Stuttgart 1891, S. 159-161.
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