Venus Genetrix

[215] Aller Wunder wundersamstes,

länger trug's die Seele nicht.

Ihre großen Thränen strömten

über dein und mein Gesicht.


»Nur für dich!« ein Flehn, ein Stammeln

schluchzender Verkündigung;

und mir keimte deine Lilje

aus dem Schooß der Dämmerung.


Doch es wuchs, es hob die Blüte

ihr befeuchtetes Gesicht,

bis wir ahnten und erkannten,

daß die Lilje deine nicht.


Denn in meine Welt gehoben,

dir entwachsen ganz und gar,

lagen wir in ihrem Kelche,

mir du, dir du offenbar,
[215]

tranken wir mit unserm Munde

ihre große Trunkenheit,

hat aus ihrem Seelengrunde

uns ein stummer Schwur geweiht.

Quelle:
Richard Dehmel: Aber die Liebe. München 1893, S. 215-216.
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