An mein Volk

[239] Ich möchte wol geehrt von Vielen sein,

und auch geliebt; ich weiß es wohl.

Aber niemals soll

mein Stolz und Wert mir drum gemein

mit hunderttausend Andern sein.


Ich hab ein großes Vaterland,

zehn Völkern schuldet meine Stirn

ihr bischen Hirn.

Ich habe nie das Volk gekannt,

in dem mein reinster Wert entstand.


In meiner Heimat steht ein Baum,

den liebe ich, der steht so stolz

über dem Mittelholz.

Da träumt'ich manchen jungen Traum;

er wurzelt tief, der hohe Baum.


Da träumt'ich, daß der Mensch allein,

von Hunderttausenden bewacht,

sich eigner macht,

bis auch die Völker sich befrein

zum Volk ... mein Volk, wann wirst du sein?

Quelle:
Richard Dehmel: Aber die Liebe. München 1893, S. 239-240.
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