Zukunft

[47] Du reiche Frau, du edle Frau,

mit deiner Sehnsucht unterm Herzen,

du möchtest jubeln und erschrickst;

ich sehe dich in deinen Schmerzen,

wie du beim Schein der Ambrakerzen

die seidne Wiegendecke stickst.


Du zählst die Fäden, silbergrau

und schwarz und blutrot, und dir schweben

viel tausend Hände vor, die weben,

viel tausend graue Mutterhände,

die weben, weben ohne Ende;

ich seh dich, wie du grausig nickst

und dunkel durch dein Zimmer blickst.
[48]

Und tausend Kinder siehst du stehen,

die still an einem Stricke drehen,

früh alt vor Hunger und Gebrest,

und siehst die Väter sich erheben,

alle, die häßlich müssen leben,

damit es Schönheit könne geben,

sie stürmen dein geschmücktes Nest:


Madam, dies blutige Garn, wer spann es?!

Da würdest du in Todeswehen

entzückt sein, könntest du dich sehen,

wie sich zum mörderischen Fest

die schmutzige Faust des Arbeitsmannes

um deine weiße Kehle preßt.


Quelle:
Richard Dehmel: Weib und Welt, Berlin 1896, S. 47-49.
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