Mit gedämpfter Stimme

[91] Ist das noch die große Stadt,

dies Geraune rings im Grauen?

diese Männer, diese Frauen,

kaum erschienen, schon verschwunden;

und die Sonne steht so matt

wie ein kleiner, rotgewordner Mond da.


Drück dich dichter an mich an,

wie der Nebel an die Mauern!

Keiner stört den stillen Bann,

wenn wir Blick in Blick erschauern.

Sieh, wir schreiten wie vermummt in Weihrauch,

jeder wilde Laut wird stumm.


Hebe deinen dunklen Schleier,

daß dein Atem mich erquickt![92]

Keiner stört die stille Feier,

wenn sich uns in diesem Dunste

fester Hand in Hand verstrickt.

Diese Straße mündet in den Himmel.


Oder weißt du, wo wir sind?

Küsse mir die Augenbrauen!

küsse mir die Seele blind!

Diese tote Stadt ist Babel,

und ihr blasser Dampf umspinnt

eine tausendjährig trübe Fabel.


Alle Farben sind ertrunken;

nur auf deinem schwarzen Haare

flimmern noch die Purpurfunken

deines Hutes aus Paris

über deinem Lippenpaare,

und mein blauer Wettermantel tröpfelt.


Du, was träumst du? Deine Augen

waren eben wie zwei Kohlen,

die sich von der Glut erholen;[93]

ja, du bist Semiramis!

Und in seinem dunkelblauen Mantel

führt dein Odhin dich ins Paradies.


Zwar, wir mußten durch viel dumpfe Gassen,

bis der Gott zu seiner Göttin kam,

und du hast manch braven Mann,

ich manch gutes Weib verlassen;

aber dies ist unsre letzte Irrfahrt,

drück dich dichter an mich an!


Sag mir – nein: horch! was für Töne?

warum stehn wir so erschrocken?

Dies verhaltene Gestöhne

aus den Wolken, dies Gedröhne,

kannst du diesen Lärm begreifen?

Komm nach Hause, Fürstin! das sind Glocken.


Vor verschiednen hundert Jahren

herrschte hier ein Gott der Leiden

über traurige Barbaren.[94]

Komm, wir woll'n die Götter trösten,

daß sie sich in Dunst auflösten,

wir zwei seligen, verirrten Heiden.


Quelle:
Richard Dehmel: Weib und Welt, Berlin 1896, S. 91-95.
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