27.

[213] Und an fernen Dächern und Kirchen hin wie an Särgen

fliegt der Morgen mit phönixgoldnem Schweif.

Die Nebel lösen sich von den kalten Bergen

und schmücken die Tannen mit reinstem Reif.

Und im Geist aufgehend in den verklärten Landen,

sagt der Mann dem Weib, als sei aller Kampf überstanden:


Sieh, Seele: so werd'ich's immer wieder spüren,

und bin ich noch so menschenmüd, Du:

nur dein Blick braucht sonnig mich anzurühren,

dann fliegen mir Gotteskräfte zu.

Nicht, du, wie damals, als wir uns noch

hochtrabende Götternamen gaben –[214]

die hab ich mit der Toten begraben;

jetzt tragen wir willig das Menschenlebensjoch.

Jetzt weiß unser Wille erst recht die Flügel zu breiten,

jeden Augenblick kann er hinaus über Räume und Zeiten;

denn selig Seel in Seele ergeben

begreifen wir das Ewige Leben,

das Leben ohne Maß und Ziel,

selbst Haß wird Liebe, selbst Liebe wird Spiel.

Dann ist der Geist von jedem Zweck genesen,

dann weiß er unverwirrt um seine Triebe,

dann offenbart sich ihm das weise Wesen

jedweder Torheit – durch die Liebe.


Er sucht ihren Blick; er will ihr Dunkelstes lesen.

Sie steht, als höre sie ferne Glocken klingen.

Sie spricht, als sei sie in der Zukunft gewesen:


Dann wird uns Segen aus jedem Werk entspringen.

Dann lebst du nicht mehr mit dem Leben in Streit.

Dann kann uns ganz die Ruhe der Allmacht durchdringen.

Nicht Mann, nicht Weib mehr wird um die Obmacht ringen.

Klar über aller Menschenfreundlichkeit

steht Mensch vor Mensch in Menschenfreudigkeit!


Sie öffnet die Arme, als will sie die Welt umschlingen.

Fern flammt der Himmel in goldner Herrlichkeit.

Mit flammt ein Seelenpaar auf Geistesschwingen.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 213-215.
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