Zweiter Akt

[38] CHRISTIAN WACH auf die Stuhllehne rechts des Tisches gestützt, zu dem Porträt hinaufstarrend. – – Jawohl, du hast dich in mir verrechnet – von jeher, du Vampyr – du zwingst mich nicht. Sich die Hand auf den Kopf legend, schwer lächelnd. Hier diesen Geheimschrank öffnet keiner; jetzt weiß ich's endlich, kein Mensch bezwingt mich. Es klopft an der Tür, und Anne tritt ein, bringt einen bunten Asternstrauß. – – Also soll's wieder losgehn mit der Verschwendung, du unverbesserliche Person?

ANNE die Vase mit dem Strauß auf den Tisch stellend. Ja, das hab ich mir gestern Abend schon vorgenommen, als Sie heimkamen aus der – der –

CHRISTIAN. Untersuchungshaft meinst du; sag's nur getrost.

ANNE. Nein, solch häßlich Wort, das paßt heut nit; aus der Prüfungszeit wollt ich sagen.

CHRISTIAN. Und siehst mich dabei schon wieder an, als müßt ich dem Himmel dafür auf den Knieen danken.

ANNE. War's nicht auch eine Segenszeit? Als Sie hinein mußten, blühten die Rosen; mögen die Herbstblumen noch mehr Segen bringen![39]

CHRISTIAN. Du sollst mich nicht so ansehn, Anne. Sich an den Tisch setzend, wie erschöpft. Aber lieb ist dein Strauß; und diesmal ohne Dornen.

ANNE. Geb's Gott, Herr Christian, geb's Gott! Aber Sie schauen nit dornlos drein; Sie müssen jetzt wieder zu Kräften kommen. Gelt, ich darf Ihnen etwas Stärkendes bringen; ein Gläschen Wein! das macht Appetit!

CHRISTIAN. Wein –? Kein Tropfen kommt mir ins Haus!

ANNE. Nur ein Gläschen Tokayer; ich hab die Flasch noch.

CHRISTIAN. So – also für mich – – Nimmt plötzlich ihre Hand. O Anne, Anne Und preßt seine Stirn hinein.

ANNE. Ja, sollt ich denn schwelgen, während Sie fasten mußten? Behutsam über sein Haar streichend. Sie müssen Ihr Herz erleichtern, Herr Christian.

CHRISTIAN schiebt sie sanft weg, steht auf. Nein, mach mich nicht weich; es war nur ein Augenblick. Nichts wird an meinem Leben geändert! Wenn du dir etwa einbildest, die Haft habe mich mürbe gemacht[40]

ANNE. O hätt sie nur! – Nein, ich bild mir nix ein.

CHRISTIAN. Sie hat mich im Gegenteil ruhig gemacht – Er wendet sich ab, geht nach dem Fenster. innerst ruhig; das mußt du doch merken Läßt sich in den Korbstuhl nieder.

ANNE ihm folgend. Das würd mich ja freuen, innerst freuen –

CHRISTIAN. Warum hast du denn so geweint im Gerichtssaal, als ich das Geständnis ablegte, ich wollte Auf das Porträt weisend. die da wirklich vergiften, wenn mich das Schicksal – du weißt, der Schlaganfall, der sie in ihrer Erregtheit hinraffte – nicht gnädig davor bewahrt hätte?

ANNE. Ja, wie sollt ich denn da nit weinen, als Sie das so gewaltig aussagten, mit solchem Entsetzen vor sich selber! Sogar von den Herren Geschwornen und Richtern schneuzten sich welche vor großer Rührung. Und ich hab doch alles einst miterlebt; ich kenn doch Ihr Herz, Herr Christian!

CHRISTIAN abermals aufstehend. Nun, der Sanitätsrat war garnicht gerührt; der hat einfach den Schlaganfall bezeugt.[41]

ANNE ihm wieder durchs Zimmer folgend. Ja freilich, natürlich; das tat ich ja auch!

CHRISTIAN. Und konntest vor Schluchzen nicht weiter reden. Plötzlich sich umdrehend, Auge in Auge. Du glaubst wohl nicht, daß es ein Schlaganfall war?

ANNE zurückweichend. O – wie fragen Sie frevelhaft! – Was ich beschworen hab, glaube ich auch. Und was ich außerdem glaube, o möchten Sie's fühlen –: wir sind allesamt Werkzeuge Gottes – der eine so, der andre so –

CHRISTIAN ist an den Kamin getreten. Mich friert, Anne; im Gefängnis war's wärmer. Von morgen an, bitte, mußt du heizen.

ANNE. Aber ich kann doch natürlich gleich!

CHRISTIAN. Nein, ich sagte: von morgen an. Sich wieder an den Mitteltisch setzend. Ich bekomme Besuch heut, für den ich Kälte brauche.

ANNE. Aber gelt, doch ein Gläschen Tokayer! Wirklich, Herr Christian, es wird Ihnen gut tun.[42]

CHRISTIAN. Ich bitte dich ernstlich, mach mich nicht wild! W-Wein macht schwatzhaft, ich hasse das! – Aber damit du deinen Willen krigst: Vetter Justus hat mich gestern nach der Freisprechung fragen lassen, ob er heute Vormittag herkommen dürfe – dann kannst du deine Flasche kredenzen.

ANNE. O welche Fügung – sehn Sie, auch dem hat Ihre Prüfungsstunde das Herz gerührt! – O, und ich hab's ja noch garnit bestellt: der Herr Regierungspräsident, der hat sich auch vorhin anmelden lassen. Sehn Sie, wie alle Menschen sich beugen, wenn sie den Finger Gottes spüren!

CHRISTIAN. Du beurteilst die Menschen nach Dir, gute Anne. Sie kriechen zu Kreuz vor meinem Geld; und sind gerührt davon, wie's mich drückt.

ANNE. Nein, nein, das sagt nur Ihr Groll auf Herrn Justus. Man hat Sie doch einstimmig freigesprochen.

CHRISTIAN. Ja, weil man keine Beweise hatte. Weil man auf Staatsunkosten mal gnädig sein konnte. Weil man dem berühmten Menschenfreund zeigen wollte: wir kennen zwar jetzt deine giftige Seele, aber wir sind keine Unmenschen deinesgleichen, wir zahlen dir deine Wohltaten heim. Ein Geächteter bin ich ihnen! Meinst du, ich habe das nicht gemerkt?[43]

ANNE. O wenn Sie nicht alles so schwarz ansehn möchten! Die Menschen sind lieber gut als schlecht; will jeder nur abwälzen, was ihn drückt.

CHRISTIAN. Mein Geld drückt mich; begreifst du das nicht? – Übrigens: vorgestern ist da eine Witwe wegen Diebstahls verurteilt worden, die kleine Kinder zu Hause hat. Du wirst dir ihre Adresse verschaffen, und wenn sie aus dem Gefängnis kommt, richtest du ihr einen Laden ein; irgend ein Geschäft, das ihr paßt. Inzwischen nimm dich der Kinder an, daß man sie nicht ins Armenhaus sperrt.

ANNE. Gern, Herr Christian! O, wie gut Sie

CHRISTIAN. Schwatz nicht, Anne; die Frau scheint mir tüchtig! Sie hat den Diebstahl ziemlich fein eingefädelt, erzählte mir mein Rechtsanwalt. Es macht mir Spaß, ihr Vertrauen zu schenken.

ANNE sich zu ihm neigend. Warum verhehlen Sie Ihr Herz? Warum schenken Sie nicht auch mir Vertrauen?

CHRISTIAN abermals aufstehend. Ich kann mich noch garnicht wieder hier eingewöhnen; bitte hilf mir den Lehnstuhl herüber setzen. – Während[44] sie den Stuhl an den Mitteltisch tragen. Es scheint, du bist jetzt stärker als ich. – Platz anweisend. Nein hierhin, den Rücken gegen die Wand; ich mag das Bild heut nicht immerfort sehn.

ANNE den überschüssigen Holzstuhl ans Fenster stellend. Ja, das hält längst schon hinaus gemußt. Darf ich's nicht endlich weghängen jetzt?

CHRISTIAN. Was soll das wieder! l-laß dies Gepurre! Ich weiß besser, was ich ihr schuldig bin. Sich setzend. Wenn sie auch unleidlich war, das ist vorbei. Daß du's ihr immer noch nachträgst, ich versteh nicht, wie sich das mit deinem Christentum reimt; du hast sie doch früher bemitleidet.

ANNE. Die Toten haben das nicht mehr nötig; mir ist nur um die Lebendigen bang.

CHRISTIAN. Du sollst mich nicht so ansehn, Anne! – Wahrhaftig, manchmal machst du Augen, grad wie die Tante in ihrer Sterbestunde; so merkwürdig in die Ferne fragend – Wiederum aufstehend. Ich will mich doch Heber dorthin setzen; sonst denkst du wohl wirklich, ich fürcht mich vor ihr. Er schiebt den Lehnstuhl rechts neben den Tisch, Anne stellt einen andern Stuhl nach hinten. Nicht wahr, das hast du doch eben gedacht?[45]

ANNE. Ich glaub an keine Gespenstermärchen. Es hat sich jeder genug vor sich selber zu fürchten –

CHRISTIAN sich setzend. Ja, du hast Recht: Gespenstermärchen – –

ANNE. Nun fangen Sie wieder zu grübeln an. Ach, wenn Sie doch dahinter kämen, daß alle Selbstbespiegelung eitel ist, nit blos im Spiegel an der Wand.

CHRISTIAN. Laß, Anne; das verstehst du nicht. Ich muß mich erst wieder zurecht finden hier.

ANNE. Ich fühl doch aber, wie Ihnen das schwer fällt; und möcht die Last doch tragen helfen.

CHRISTIAN. Nein, geh jetzt; ich muß das allein überlegen. Ich habe schon selbst daran gedacht, du wärst vielleicht die rechte Person, mir den Rest des Vermögens ver-p-pulvern zu helfen; ich werde das nächstens mit dir besprechen.

ANNE. O nicht das Geld, Herr Christian; fassen Sie doch Vertrauen zu mir! Erleichtern Sie Ihre bedrückte Seele! Wie eine Mutter bitt ich zu Gott darum; das wird Sie auch wieder gesund machen.[46]

CHRISTIAN aufstampfend. Ich sag dir, l-laß das – geh – bring mich nicht auf! – Ruhiger. Stell die Flasche für den Justus bereit; aber bring sie erst, wenn ich's dir sage! – Während Anne langsam zur Tür geht. Und ich dank dir für deinen Asternstrauß; ich dank dir für alles, alles – hörst du? Da Anne an der Türschwelle zögert. Nun, laß gut sein, geh jetzt; was stehst du noch –

ANNE mit feierlichem Ausdruck, gedämpft. Und nähmest du Flügel der Morgenröte und flüchtetest übers äußerste Meer, so würde dich meine Hand doch erreichen, spricht der Herr dein ErbarmerSie geht hinaus. – –

CHRISTIAN sich erhebend, mit abwehrender Handbewegung. Gespenstermärchen – – Er nimmt den Strauß und stellt ihn unter das Bild. Ihr zwingt mich nicht – ihr kennt mich nicht – niemand! – Draußen elektrisches Klingelzeichen; er gibt sich Haltung, tritt neben den Lehnstuhl. Dann geht die Tür auf, und es erscheinen: der Regierungspräsident und der Oberbürgermeister. – –

PRÄSIDENT nach gegenseitiger leichter Verbeugung. Verzeihung, wenn ich stören sollte, und bitte doch Platz zu behalten, Herr Rat; Sie werden sich leider noch etwas erschöpft fühlen.

CHRISTIAN WACH. Nicht sonderlich, Herr Regierungspräsident; ich müßte[47] lügen, wenn ich Ja sagen wollte. In unsern Gefängnissen lebt sich's bequemer, als es mancher bei sich zu Hause hat.

PRÄSIDENT lächelnd. Ich möchte es lieber doch nicht versuchen. Aber um zur Sache zu kommen: ich stehe vor Ihnen auf Befehl Seiner Königlichen Hoheit unsers gnädigsten Herrn, zugleich im Auftrag des Ministeriums, um Ihnen unverzüglich Ihre Ernennung zum Geheimen Kommerzienrat anzuzeigen. Die Regierung will damit ausdrücken und vor der Öffentlichkeit bekunden: erstens ihre Teilnahme an dem glücklichen Ausgang eines Prozesses, der soviel peinliches Aufsehn erregt hat, zweitens ihr unverkürztes Vertrauen in den gemeinnützigen Charakter eines Mannes, der für die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit seinen persönlichen Ruf gewagt hat. Nach der erschütternden Seelenbeichte, die Sie vor dem Gerichtshof abgelegt haben, soll Ihnen diese Anerkennung eine dauernde Aufrichtung geben Er verbeugt sich mit Gemessenheit.

CHRISTIAN WACH lächelnd. Sie soll mir wohl auch, Herr Präsident, eine dauernde Richtung geben. Ich danke Ihnen ehrerbietigst und bitte diesen Sich verneigend. untertänigen Dank auch höheren Ortes zu vermelden, erstens für die Teilnahme, zweitens für das – »unverkürzte Vertrauen«. Ich werde mich, soweit es noch in meinen kurzen Kräften steht, dieses Vertrauens würdig zu machen versuchen.[48]

BÜRGERMEISTER. Davon ist jedermann überzeugt, Herr Geheimrat. Ich habe mich nicht blos mit eingefunden, um Ihnen zu der neuen Würde meinen Glückwunsch darzubringen Er verbeugt sich gleichfalls gemessen. – ich komme zuvörderst in Vertretung des Ausschusses der Bürgerschaft, sodann noch besonders als erster Vorsitzender der Gesellschaft der Menschenfreunde, um Ihnen das allgemeine Bedauern über diese Anklage auszusprechen, die zwar amtlich genügend begründet war, aber deren augenscheinliche Unhaltbarkeit schließlich sogar der Herr Staatsanwalt zugab. Sie dürfen davon durchdrungen sein, daß niemand in den maßgebenden Kreisen bei Ihrer stets betätigten Menschenliebe einen anderen Ausgang erwartet hatte, und daß die Untersuchung der Leichenreste Ihrer verewigten Frau Tante lediglich als Formalität, wie sie die Rechtspflege unvermeidlich erfordert, vorgenommen werden mußte. Es stand wohl jedem von vornherein fest, wenigstens jedem Wohlgesinnten, daß das Gift nicht mehr entdeckt werden konnte – das heißt, ich wollte natürlich sagen: überhaupt nicht entdeckt werden konnte.

PRÄSIDENT sehr rasch. Überhaupt natürlich –

CHRISTIAN WACH sehr langsam. Überhaupt – – Ich danke verbindlichst, Herr Oberbürgermeister. Darf ich nicht bitten, Platz zu nehmen?[49]

PRÄSIDENT. Es tut mir außerordentlich leid, aber meine Zeit ist heute gemessen. Sich verbeugend. Ich empfehle mich, Herr Geheimer Rat.

CHRISTIAN WACH ebenso. Ich empfehle mich, Herr Präsident.

PRÄSIDENT. Begleiten Sie mich, Herr Oberbürgermeister?

BÜRGERMEISTER. Ich habe noch eine Kleinigkeit mit dem Herrn Geheimrat zu erörtern.

PRÄSIDENT. Also auf Wiedersehn, meine Herrn – Er verbeugt sich nochmals, geht ab. – –

BÜRGERMEISTER. Ich möchte mich nur in aller Kürze – doch ich bitte zunächst um Entschuldigung: Sie werden sich hoffentlich nicht verletzt gefühlt haben, weil ich vorhin ein wenig im Ausdruck fehlgriff –

CHRISTIAN WACH lächelnd. O, wie dürfte ich mich verletzt fühlen – nach allem, was geschehen ist – da Sie es doch so aufrichtig meinten –[50]

BÜRGERMEISTER. Ja, dessen dürfen Sie sich versichert halten; aufrichtig, verehrter Herr Geheimrat! Und deshalb – Da Christian Wach auf die Stühle weist. nein danke, ich will mich wiegesagt nur in aller Kürze erkundigen –: Wenn es Ihnen etwa erwünscht sein sollte, daß Ihr mißliebiger Verwandter, der zwar in amtlicher Eigenschaft, aber offensichtlich nur aus Feindseligkeit gegen Sie vorgegangen ist, aus seinem Amte entfernt werde, dann will ich Ihnen diese Genugtuung gern bei dem Herrn Polizeidirektor erwirken.

CHRISTIAN WACH. Sehr freundlich', Herr Oberbürgermeister. Aber ich bitte Sie »sich versichert zu halten«: mein Vetter handelte nur aus dem Pflichtgefühl, das eine Eigentümlichkeit unsrer Lächelnd. etwas starrköpfigen Familie ist.

BÜRGERMEISTER. Nun, ich meinte blos: wenn sein Aufenthalt hier, in unserer traulichen Residenzstadt, Ihnen jetzt vielleicht unliebsam aufstoßen sollte: eine zeitweilige Strafversetzung würde ihm ohnehin wohl gebühren für seinen fruchtlosen Übereifer.

CHRISTIAN WACH lächelnd. Also hätte er doch vielleicht fruchten können? – Nein, im Ernst, ich bitte sogar inständig, meinem Vetter jegliche Gunst zuzuwenden, die seine Vorgesetzten ihm zollen würden, wenn er nicht zufällig mich beamtseifert hätte. Es wäre mir wirklich sehr unliebsam, wenn man ihn grade[51] mir zuliebe für eine Verdächtigung strafen wollte, die sein Beruf ihm aufnötigte, und die anfangs – nicht wahr, ich irre wohl nicht – auch andern eifrigen Amtspersonen und Menschenfreunden begründet erschien. Er ist gestraft genug durch den Mißerfolg; nicht zu reden von dem Erbschaftsverlust, den er einst durch mich erlitten hat, wenn auch nur wegen seines eigenen Starrsinns.

BÜRGERMEISTER. Ich bewundre die Selbstlosigkeit, Herr Geheimrat, mit der Sie nach dieser herben Erprobung Ihrer mitmenschlichen Gefühle die Angelegenheit ins Auge fassen. Und ich darf mich also der Hoffnung hingeben, Sie werden auch unserm Gemeinwesen gegenüber Ihre rühmlichst bekannte Gesinnung nach wie vor betätigen?

CHRISTIAN WACH. In der Tat, ich werde nach Kräften versuchen, mich auch fernerhin zu betä-hähähätigen – Sich an die Kehle fassend. Verzeihung, mein Nervenübel meldet sich wieder. – Aber wollen wir uns nicht doch lieber setzen? Vielleicht ein Gläschen Wein gefällig? Denn Sie lieben doch die geselligen Freuden.

BÜRGERMEISTER. O danke, danke, bedaure aufrichtig; muß mich beute leider besonders beeilen. Aufrichtig, verehrter Herr Geheimrat! – Also wiegesagt, um mich kurz zu fassen: ich wünsche allseitige Wiederherstellung unseres guten Einvernehmens und Ihrer so wertvollen Gesundheit. Er verbeugt sich würdevollst.[52]

CHRISTIAN WACH. Ich werde wiegesagt bestrebt sein – Er verbeugt sich etwas weniger und läßt den Bürgermeister hinausgehn, ohne ihm das Geleit zu geben; sinkt dann in den Lehnstuhl und nickt vor sich hin. – – »Aufrichtig, verehrter Herr Geheimrat« – – Es klopft, die alte Anne erscheint.

ANNE. Kann der Herr Justus jetzt eintreten?

CHRISTIAN. Natürlich. Weshalb fragst du erst?

ANNE. Soll ich den Wein gleich mitbringen?

CHRISTIAN. Du sollst tun bitte, was ich dir sagte. Ich werde schon rufen, wenn's an der Zeit ist. Anne geht – Justus erscheint; tritt zögernd näher, bleibt halbwegs stehen. Nun? diesmal ohne Aktenmappe? – Sehr liebenswürdig; bitte setz dich. Während Justus an den Tisch tritt. Willst dich wohl teilnehmend erkundigen, wie mir der Spaß bekommen ist?

JUSTUS. Ich muß deinen Spott leider hinnehmen, Vetter; oder vielmehr, ich nehme ihn gern hin. Ich habe das ehrliche Bedürfnis, dich um Verzeihung zu bitten für die Kränkung, die ich dir leider antat in meinem blinden Haß. Die alte Anne hatte ganz Recht: schließlich sind wir doch Blutsverwandte.[53]

CHRISTIAN. Ich habe schon soviel Ehrlichkeit heut genossen, daß ich dir auch die deine verzeihe. Also nochmals: nimm endlich Platz.

JUSTUS setzt sich links des Tisches. Ich begreife deine mißtrauische Laune. Aber sie kann mich nicht hindern, dir zu bekennen, daß sich meine Meinung über deinen Charakter von innerstem Grund aus geändert hat. Du hast mich entwaffnet – ganz und gar – bis unter die nackte Haut sozusagen – sodaß ich mich vor mir selber schämte –

CHRISTIAN. Armer Vetter, wie stockend du redest; du hast dich wieder mal gut präpariert. Beruhige dich: ich werde dir's nicht vergessen, wenn ich nächstens mein Testament neu verfasse. Oder brauchst du gleich einen Vorschuß drauf?

JUSTUS. Ich muß mir's gefallen lassen, wenn du mich demütigst; aber du brauchst es nicht noch mehr zu tun, als ich es wahrlich selbst schon tat. Es ist mir nicht leicht geworden, Christian, mich dermaßen zu überwinden, daß ich einem Menschen Abbitte leiste, den ich glaubte verachten zu dürfen. Ich hab's mir natürlich überlegt, und weiß alles, was du mir einwenden kannst; aber mir deucht, auch du könntest wissen, nach meinem ganzen Verhalten bei dieser Erbschaftsgeschichte, daß ich es nicht aus Berechnung tue.[54]

CHRISTIAN. Nein, du bist ja Justus, auf deutsch der Gerechte. Nun, es freut mich ehrlich, wenn du erkannt hast, daß die Rachsucht ein schlechtes Geschäft ist; man verrechnet sich leicht, wenn man gar zu eifrig ist.

JUSTUS. Ich gebe zu, ich wollte mich rächen. Aber ich glaube, ein Mensch wie du wird es menschlich verstehen können, daß ich mich einigermaßen gereizt dazu fühlte. Und jedenfalls: ich bereue es jetzt.

CHRISTIAN. Ja, das Lebensgeschäft macht uns alle mürbe, selbst den schneidigsten Rechenmeister.

JUSTUS. Du legst mir wirklich falsche Beweggründe unter.

CHRISTIAN. O, jeder rechnet auf seine Weise, auch wer die Erbschleicher glaubt »verachten zu dürfen«. Du stößt wohl jetzt auf allerlei Schwierigkeiten in deiner amtlichen Regeldetri?

JUSTUS. Es schmerzt mich um Deinetwillen, Christian, daß du dich boshafter stellst, als du bist. Oder fühlst du mir's in der Tat nicht an, daß auch ich aus reiner Wahrheitsliebe meine menschliche Schwachheit bekenne? Ich kann dich nicht für so fühllos halten; jetzt nicht mehr, du[55] hast mich überwältigt. Dein letztes Bekenntnis vor Gericht hat mich ergriffen wie noch nichts im Leben.

CHRISTIAN. Aber dann gönne mir doch den reinen Triumph, den meine Selbstbeherrschungskunst – »man könnte auch sagen: Verstellungskunst« – über deine Schwachheit errungen hat. Nicht wahr, auf diesen ehrlichen Kunstgriff war deine Menschenkenntnis nicht vorbereitet? Ja ja, lieber Vetter, sie ist nicht so einfach, die Algebra der Verbrecherseele.

JUSTUS. Du wirst mich nicht irre machen mit deinen Scherzen. Ich werde nicht aufstehn von diesem Stuhl, bis du mir die Hand zur Verzeihung reichst, meinethalben auf Nimmerwiedersehn. Ich traue dir nicht die kleinliche Rachsucht zu, daß du die einzige Genugtuung ablehnen wirst, die ich dir in meiner erbärmlichen Lage, der Besiegte dem Sieger, noch bieten kann.

CHRISTIAN. O, du kannst noch allerlei von mir lernen, sogar im Satisfaktions-Comment. Ich gebe dir zum Beispiel den guten Rat, deine Rache nicht auf die lange Bank zu schieben; es ist dir schon einmal schlecht bekommen. Hättest du im Sommer nicht vier Wochen gewartet, um mir die scherzhafte Überraschung zu meinem Geburtstag zu bereiten: wer weiß, ob du jetzt der Besiegte wärest. Einem simpeln Kommerzienrat hätte man eher die Maske des Menschenfreunds abgerissen, als einem Ehrenbürger[56] und Kronordensritter; die Behörden konnten es doch nicht wünschen, durch meine Verurteilung mit-bablamiert zu werden, und die Stimmung von oben her ist bekanntlich in Residenzstädten sehr tonangebend. Also lieber Justus, ich rate dir nochmals, deine geheimpolizeilichen Gerechtigkeitspläne nicht aus gar zu langer Hand weiter zu spinnen; du verwickelst dich sonst im eigenen Netz.

JUSTUS aufstehend. Wenn du mich durchaus wegjagen willst: nun gut, du kannst es, dann sind wir quitt! Dann bist du nicht der hochherzige Dulder, vor dem ich mich endlich beugen wollte! Dann bist du wirklich vom Fluch des Reichtums so bis ins Mark zuschanden gequält, daß du überall nur noch Schmarotzer witterst!

CHRISTIAN. Dann bin ich der ehrlose Knecht meines Geldes, der nicht geduldig zum Pranger geschleift sein wollte! Gleichfalls aufstehend. Dann bin ich der verworfene Heuchler, der nicht die gnädige Hand drücken will, die ihn dem Schandmaul des Pöbels p-preisgab! Dann bin ich der Schurke, der argwöhnische, der auf all die w-wohlfeilen Worte höhnt, womit wir unsre Untat beschönigen! Dann – ah: Taumelnd. hahahalt mich, Justus: das Herz!

JUSTUS ihm beispringend. Verdammt ja, was ist –?[57]

CHRISTIAN. Laß – es geht schon vorüber. – Sich setzend. Es war nur ein kleines Erinnerungszeichen – Lächelnd. an meine Selbstbeherrschung, weißt du. Laß dich's nicht kümmern, setz dich wieder. – Da Justus zögert. Was äffst du uns beide mit Großmutsgrimassen. Du mußt doch merken, wie gern ich mich aussprechen möchte; du bist doch sonst ein witziger Mensch. Also setz dich; hier hast du meine Hand.

JUSTUS. Ich dank dir – Gibt ihm die Rechte.

CHRISTIAN ihn fixierend. Ich trau dir! – Nun? was zuckst du zurück? –

JUSTUS. Du bist mir unheimlich, Christian –

CHRISTIAN. Hahaherrlich! Siehst du, wie ich mich freue! das war doch endlich ein ehrliches Wort! – Aber im Ernst: hast du wirklich nicht gemerkt, wie ich brenne auf eine Aussprache, eine wirklich vertrauliche Aussprache, nach meiner unfreiwilligen Einsamkeit? Mit der alten Anne, so redlich sie ist, kann man doch blos das Einfachste reden; und andre Freunde hab ich ja nicht. – Es klopft, und Anne tritt mit dem Sanitätsrat ein. – Ah, lieber Geheimrat, alter Freund, nett daß Sie auch auf den Busch klopfen kommen; ich fühle mich recht behaglich heute Er weist auf die Stühle neben sich.[58]

SANITÄTSRAT hinter dem Tisch Platz nehmend. Kann mir's denken, verehrtester Herr Kollege von der finanziellen Fakultät; traf eben den Bürgermeister, gratuliere – Sich verneigend. zu der neuen Würde und Würdigung. Ist ja ein wahrer Triumph der Gerechtigkeit; schade daß Sie keine Zeitungen lesen. Die ganze Presse singt Ihnen Hosianna; selbst die Sozi blasen ins Jubelhorn. Zu Justus, der stehen geblieben ist. Ich genier Sie doch nicht, Herr Gedehnt. Polizeikommissar –?

JUSTUS. Keineswegs, Herr Geheimer Sanitätsrat; ich wollte mich ohnehin empfehlen. Ich kam nur her, um meinem Vetter die gebührende Abbitte zu leisten.

CHRISTIAN. Nein, Justus, das darfst du mir jetzt nicht antun; ich muß dich tatsächlich noch etwas fragen.

SANITÄTSRAT. Dann nichts für ungut, Herr Leutnant, Sie kennen mich ja; Ihm mit komischer Würde die Hand hinstreckend. es irrt der Mensch, solang es geht –

CHRISTIAN. Also bitte, im Ernst: Versöhnungsfeier – Justus gibt lässig dem Sanitätsrat die Hand und setzt sich wieder links des Tisches. Bitte, Anne, du weißt ja Sie nickt, geht hinaus. – ich danke dir, Justus.[59]

SANITÄTSRAT. Aber Sie haben's zu kalt hier im Zimmer; für Ihren Körper ist Kälte jetzt Gift! Christian zuckt ein wenig zusammen. Ah Pardon, das verflixte Prozeßwort; man wird es garnicht mehr los aus den Ohren, alle Zeitungen wimmeln von Vergiftungs-Wortspielen. Für einen Medizinmann recht amüsant; ich darf doch ruhig davon reden?

CHRISTIAN. O bitte – Lächelnd. seh ich denn unruhig aus?

SANITÄTSRAT. Na, Verehrter, nur keine Fisimatenten; Ihre Ruhe ist mir nicht ganz geheuer. Inzwischen ist Anne zurückgekommen, setzt eine Platte mit Gläsern und Weinflasche auf den Tisch.

CHRISTIAN. Nun, dann wollen wir heizen, meine Herrn. Bitte, Anne, schänk ein

SANITÄTSRAT UND JUSTUS. Nein danke – danke – Strecken gleichzeitig rasch die Hand zur Abwehr.

CHRISTIAN. So enthaltsam auf einmal? Nun, Anne, dann mir nur. Lächelnd. Es ist wirklich kein Gift drin, meine Herrn.

SANITÄTSRAT. Aber Bester, empfindlich –? Na, Schwester Anne, dann sein Sie mal auch zu mir barmherzig Er läßt sich gleichfalls einschänken.[60]

CHRISTIAN. Justus –?

JUSTUS. Ich bin's zwar nicht mehr gewohnt vormittags. Aber –

ANNE nachdem sie auch ihm eingeschänkt. Ist gern geschehen, Herr Justus.

SANITÄTSRAT während Anne hinausgeht. Also dann, mein teuerster Herr Patient: wie gesagt, es lebe die Friedensbewegung! – Sie stoßen gemessen an und trinken. – Denn wie gesagt: Ihre Ruhe gefällt mir nicht, kommt mir nach all dem Traraa etwas unheimlich vor. Hatte eigentlich von der vertrackten Affäre eine Art Nervenbelebung für Sie erwartet. Drückt Sie vielleicht ein geheimer Schmerz? Das heißt, verstehen Sie recht, ich meine: irgend ein Groll, ein verbissener Kummer? Nur nichts in sich fressen, Verehrter! Trinken Sie öfters ein Gläschen Champagner und sprechen Sie sich mit jemand aus, wenn die Geschichte Sie immer noch wurmt.

CHRISTIAN. Ha-hörst du's, Justus: ich soll mich gesund beichten! Vor Gericht, das genügte noch nicht! Also klopf mir mal gründlich aufs Gewissen!

SANITÄTSRAT. Spotten Sie nur, das ist gut gegen Blutstockung; der Herr Vetter wird's Ihnen nicht verargen. Wir müssen uns hüten, Verehrter, vor Apoplexie! Und bei Neurosen,[61] so rätselhaft wie die Ihre, kann Herzenserleichterung Wunder tun. War mir schon im Prozeß höchst intressant, daß Sie plötzlich nicht mehr zu stottern brauchten. Also nochmals: nur keine Mördergrube!

CHRISTIAN Justus zutrinkend. Haha-Heil dir also, du Wundertäter! – Aber, mein lieber Geheimrat, was reizt Sie blos, daß Sie mich durchaus gesund machen wollen? Meine Krankheit ist doch viel intressanter.

SANITÄTSRAT. Na, erlauben Sie, Bester, bedenken Sie: ich bin doch immerhin Vorstandsmitglied der Gesellschaft der Menschenfreunde! Jahresbeitrag fufzig M, angerechnet die Liebesmähler! – Er trinkt aus und steht eilfertig auf. Also wohl bekomm's, meine Herrn; mehr als guten Rat kann ich leider nicht geben – Verbeugt sich lächelnd, geht händereibend ab. – –

CHRISTIAN. Nun, so nachdenklich, Herr Gewissensrat? Trink doch, du sollst mich doch animieren!

JUSTUS. Auf den neuen Charakter denn, Herr Geheimrat – Blickt ihn forschend an und trinkt aus.

CHRISTIAN ihm das Glas wieder füllend. in der alten Mördergrube, nicht wahr? – Du dachtest wohl wirklich im ersten Augenblick, ich wollte uns alle zusammen vergiften?[62]

JUSTUS. Offen gesagt, Vetter, ich würde dir dankbar sein, wenn du einen andern Ton zu mir anschlagen könntest. Ich bin vielleicht doch nicht »witzig« genug, um über derlei Scherze zu lachen.

CHRISTIAN. Und wenn's nun keine Scherze wären? Wenn ich nun doch vielleicht gemordet hätte, noch viel planmäßiger, als du dachtest? Wenn Nach dem Porträt weisend. der Schlaganfall meines Opfers kein Zufall war, sondern von mir herbeigeführt, um auf alle Fälle sicher zu gehn? Bist du noch garnicht auf den Einfall gekommen, daß man Wutanfälle künstlich bewirken kann?

JUSTUS. Es scheint, du gefällst dir in der Rolle des skrupellosen Übermenschen. Du solltest mit solchen Gedanken nicht spielen in deinem überreizten Zustand. Du kannst dich doch unmöglich wohl dabei fühlen.

CHRISTIAN. Meinst du, die menschenfreundlichen Milliardäre, die in Amerika Kirchen und Schulen stiften und Krankenhäuser und Volksküchen, die zögen ihre Gefühle zu Rate, wenn sie mit ihren Börsenmanövern andere Menschen zu Grunde richten? Oder um ein Beispiel zu wählen, das deinem Opfersinn näher liegt: hat sich etwa der General Bonaparte, oder irgend ein andrer Schlachtenlenker, jemals mit Gewissensskrupeln über M-Massenmord abgegeben? Und doch bewundert ihn die christliche Menschheit; genau so wie[63] den frommen Pizarro, der zum höheren Ruhm seines Hahaha- Heilands ein ganzes Volk Heiden abschlachtete. Ja, die menschliche Bestie ist sehr beflissen, heilige Zwecke zu erfinden, unter deren Nimbus sie sich austoben kann. Sein Glas hebend. Trink, lieber Justus, und lerne l-lachen! –

JUSTUS während Christian trinkt und sich hastig das Glas wieder füllt. Du könntest dich auch auf Nero berufen, an dessen irrsinnigen Greueltaten sich der Pöbel im Kino noch heute entzückt. Trotzdem hält jeder anständige Mensch solchen großspurigen Bösewicht im Grunde für einen armen Teufel, der in die Besserungsanstalt gehörte.

CHRISTIAN auflachend. Hahahimmlisch! du bist ja ungemein witzig! Wahrhaftig, das Alleranständigste wäre, wir gingen alle in die Besserungsanstalt; es ist für Hans Jedermann immer noch leichter, ein Engel in Menschengestalt zu werden als ein Teufel von Übermenschengröße. Aber du trinkst ja garnicht, du M-Menschheitsretter; zum Wohl, mein gütiger Beichtvater! Er trinkt mit sichtlicher Erregtheit.

JUSTUS nur kurz Bescheid tuend. Zum Wohl – wenn dich die Beichte nicht reut. Vielleicht ist es dir in Wahrheit, lieber, dich nicht weiter auszusprechen.

CHRISTIAN. Was weißt du von meiner Wahrheit, Mensch! Sich[64] mäßigend, starr vor sich hin. Was weiß ich schließlich selber davon.

JUSTUS. Beruhige dich; ich will sie nicht wissen.

CHRISTIAN. Wer kann denn die Wahrheit über sich sagen? Das Wahre ist immer nur, was man tut!

JUSTUS. Ich will auch von deinen Taten nichts wissen. Ich bin durchaus nicht darauf versessen, mich in dein Vertrauen zu drängen.

CHRISTIAN lächelnd. Aber du bleibst mit Vergnügen sitzen, weil meine Worte dein M-Mißtrauen ködern. Vergiß nicht, es sind blos – »Gedankenspiele«. Er trinkt wieder mit merklicher Hast.

JUSTUS. Ich bin geblieben, Christian, weil du mich etwas fragen wolltest. Wenn's dir leid geworden ist, gehe ich gern.

CHRISTIAN. Aber nein, das wirst du mir doch nicht antun, du reuevoller Blutsverwandter! Du mußt doch anstandshalber ein bißchen Mitleid haben mit meinem »überreizten Zustand«! Natürlich will ich dich etwas fragen, sehr viel sogar, du wirst dich wundern! Du mußt doch auch von Berufswegen einigen Anteil daran nehmen, wie der verfolgten Unschuld zumute ist! Nicht wahr, lieber Vetter, das mußt du doch?[65]

JUSTUS. Also –?

CHRISTIAN. Du scheinst es ja garnicht erwarten zu können – Er will wieder trinken, beherrscht sich aber. Also: gesetzt zum Beispiel den Fall, dir kämen jetzt, nachdem sich dein Urteil über meinen Charakter geändert hat – von Grund aus geändert hat, wie du sagtest – da käme dir nun ein D-Dokument in die Hand, womit du dem ho-hohohohen Gerichtshof den vollen Beweis erbringen konntest, daß ich mich in der Tat vor Jahren als Unmensch betäterätätigt habe: was würdest du da tun, lieber Justus?

JUSTUS. Du wirst doch nicht im Ernst erwarten, daß ich auf solche wahnwitzige Frage eine vernünftige Antwort geben soll.

CHRISTIAN. Du meinst, ich würde jetzt nicht mehr ins Zuchthaus, sondern ins Irrenhaus gehören? Sehr freundlich, aber das scheint mir falsch; ich halte meine Vernunft für recht klar. Doch gesetzt, ich war wirklich so irrsinnig, aus allgemeiner M-Men schenliebe einen einzelnen Menschen zu morden, dann ist doch Irrsinn noch kein triftiger Grund, einen M-Mörder freizusprechen. Das wäre wohl höchstem dann vernünftig, wenn alle Irren Mörder wären. Du bist doch jedenfalls der Ansicht, mindestens doch von Amtswegen, daß man verbrecherische Gelüste aus der Menschheit ausrotten müsse, und daß sich das nur durchsetzen läßt, wenn[66] man die Verbrecher bestraft. Warum also einen M-Mörder schonen, der zufällig auch noch irrsinnig ist; den müßte man doch erst recht bestrafen, damit sich nicht etwa andre Irre ein reizendes Beispiel an ihm nehmen. Ja, wär's noch ein Mammama-Massenmörder, vor dem sich die vernünftige Menschheit mit Staunen und Grauen verkriechen könnte! Aber ein ganz gewöhnlicher Gelegenheitsmörder: wozu denn den unter die Glasglocke setzen? – Ich glaube, du wirst mir zugeben müssen, daß meine überreizten Gedankenspiele ziemlich folgerichtig sind.

JUSTUS. Unheimlich richtig – wie ich gleichfalls schon sagte.

CHRISTIAN lächelnd. Ja, es ist schwer, sich verstehen zu lernen. Das Glas hebend. Zum Wohl! so trink doch endlich aus!

JUSTUS sein Glas mit der Hand bedeckend. Nein, danke; keinen Tropfen mehr.

CHRISTIAN. Du fürchtest wohl, du lernst mich zu gut verstehen? – Das Glas hinsetzend, ohne getrunken zu haben. Soll ich dich lieber nicht weiter fragen?

JUSTUS lächelnd. Ich fürchte, du wirst es nicht lassen können.[67]

CHRISTIAN. Sehr wahr! du fängst wirklich an zu verstehen! – Also gesetzt, du fändest irgend ein Schriftstück, das mein Verbrechen unwiderleglich bewiese – zum Beispiel ein Tagebuch von mir, das ich damals geschrieben hätte – in das ich alles verzeichnet hätte, was mich zu der Untat verführte – in dem ich mir Rechenschaft ablegte, über meine Gedanken und Gefühle, vor der Tat und nach der Tat – wie ich mit meinem Gewissen kämpfte, jahraus jahrein, von W-Woche zu Woche – wie ich mich prüfte und mich quälte mit meiner schahauderhaft klaren Vernunft – wie ich l-langsam die Feigheit überwand, die in unsern sittlichen Grundsätzen nistet – wie ich in allen Gründen und Abgründen meiner Seele herumstocherte, um die Gewürme der Angst und Reue, des E-Ekels Und Dünkels zu zerquetschen – Er hat sich krampfig ans Herz gegriffen. –: würdest du jetzt noch w-willens sein, mich auf Grund eines solchen Bekenntnisses öffentlich zu brandmarken? –

JUSTUS. Aber lieber Christian, nimm's nicht übel, verzeih mir meine Offenheit: das sind ja leere Hirngespinnste. Solch Tagebuch ist doch nicht vorhanden, also kann ich es auch nicht finden, also auch zu der Frage nicht Stellung nehmen.

CHRISTIAN. Du meinst, weil du's nicht gefunden hast bei deiner amtlichen Haussuchung hier? Lächelnd. Hast wohl gründlichst an den Wänden geklopft? zum Beispiel Nach dem[68] Porträt weisend. hinter dem Erbstück da! – Nun, vielleicht gibt es doch Verstecke, die selbst einem Detektivoffizier ein Buch mit sieben Siegeln sind.

JUSTUS lachend. Da kann ich dich gründlichst beruhigen! In der alten Bude, die wir von Kindheit an kennen, ist mir kein Blättchen verborgen geblieben, geschweige ein ganzes Tagebuch.

CHRISTIAN. Nun, die Mühe hättest du sparen können. Es wäre doch gar zu gewöhnlich gewesen, ein solches Beweisstück hier aufzubewahren, wo jeder Schnüffler es finden konnte; für einen so harmlosen Bösewicht wirst du mich jetzt wohl nicht mehr halten. Aber gesetzt, ich hätte es anderswo, an ganz sicherer Stelle, hinterlegt, unter unantastbarem Siegel – zum Beispiel bei irgend einem Notar, oder in der Stahlkammer einer Bank, etwa als Anhang zu meinem T-Testament, das erst nach meinem seligen Tod gerichtlich geöffnet werden darf –: gesetzt, ich hätte meine Erben, zum Beispiel einen gewissen Justus, oder vielleicht auch die alte Anne, mit der Erlaubnis betrauen wollen, die Menscheit darüber aufzuklären, welch Scheusal dieser M-Menschenfreund war – mit welcher kaltblütigen Hihihi-Hinterlist er ein gebrechliches Weib umgarnte, wie er ihre Krankheit mit langsamen Reizmitteln nährte, ihren zügellos gewordenen Jähzorn bis zur Selbstzerrüttung aufpäppelte – wie er ihr schließlich seinen M-Mordplan enthüllte, daß sie vor ohn-m-m- mächtiger Wut.[69]

JUSTUS brüsk aufstehend und sich reckend. Genug! jetzt hab ich genug gehört! – Ich bedauere meine Gutgläubigkeit, ich speie auf deinen frechen Hohn. Du denkst, du bist jetzt sicher vor mir; du wirst dich irren, du kennst mich noch nicht! Ich werde nicht ruhen bis du entlarvt bist; keinen Schritt mehr sollst du im Leben tun, hinter dem du nicht meine Augen spürst! Bei Tag und Nacht, ich werde dir nah sein: dein Doppelgänger, dein Alb, dein Gespenst –

CHRISTIAN hat sich gleichfalls erhoben, ihm fiebrig in die Augen starrend. Du wirst mir »von Grund aus« willkommen sein. Du wirst mir das höchste Vergnügen bereiten, nach dem ich im Leben getrachtet habe. Du wirst mir tagtäglich den vollen Genuß meiner M-Menschenwürde verschaffen! Du wirst mir der Hund sein, der bis zum Irrsinn nach meiner Gewissenspfeife tanzt! Du wirst

JUSTUS. Ich werde dein Spiegel sein! Du bist ja der bodenloseste Teufel, der sich jemals vor sich selber versteckt hat! Ich werde dir endlich einmal zeigen

CHRISTIAN. dein wahres Antlitz! nicht wahr? ha- ha-hah! – Ist das deine Reue, du »anständiger Mensch«?! Kenn ich dich jetzt, du ehrlicher Vetter?! Ich kann dir noch mehr Verbrechen vorlügen, um dein M-Mitgefühl zu befriedigen! Ich sollte wohl gleich vor Rührung zerschmelzen[70] ob deiner edlen »Gutgläubigkeit«? Hahahimmlisch, du entlarvter Engel, du Cherub der Gerechtigkeit! Hab ich dir »endlich einmal« ins Herz geleuchtet? in die M-Mördergrube – hha-ha-ha – ah – Sein Gelächter schlägt um in einen Wehlaut, er greift in die Luft und bricht zusammen.

JUSTUS beugt sich über den Tisch vor, mit beiden Fäusten aufgestemmt, betrachtet kalt den Ohnmächtigen. – Diesmal scheint's echt; – du traust dir zuviel zu, Bursche – – Er geht langsam zur Tür, öffnet, ruft. Schwester Anne! – Er zieht seine Taschenuhr, überlegt.

ANNE. Was ist? Erschreckend. Um Gottes willen – Sie eilt an den Lehnstuhl, nimmt Christians Kopf in den Arm, lockert ihm Kragen und Halsbinde.

JUSTUS an der Tür bleibend. Dem Herrn ist der Wein wohl zu stark gewesen; ich werde den Sanitätsrat holen. Und den Notar; wie heißt er doch gleich?

ANNE. Welcher Notar? Ich weiß ihn nicht Der Herr sagt mir nichts von seinen Geschäften.

JUSTUS. Nun, dann nachher; auf bald, Schwester Anne. Wir müssen dem Herrn jetzt ein bißchen beistehn; wir wollen nachher darüber sprechen.[71]

ANNE. Gewiß, Herr Justus, das wollen wir.

JUSTUS. Also auf bald!

ANNE. Auf bald, Herr Justus. – Nachdem Justus gegangen ist, leise. Vater, hilf deinen schwachen Kindern – –


Vorhang.


Quelle:
Richard Dehmel: Die Menschenfreunde. Berlin 1918, S. 38-72.
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