Zweites Kapitel

[6] Wie Oliver Twist aufwuchs, erzogen und verpflegt wurde.


Die nächsten acht bis zehn Monate war Oliver das Opfer systematischer Säuglingsfürsorge. Er wurde mit der Flasche aufgezogen. Von der elenden Lage des kleinen Waisenjungen machte man seitens der Vorstände des Arbeitshauses pflichtgemäß denen des Kirchspiels Meldung, worauf von letzteren in aller Form die Anfrage einlief, ob sich denn nicht im »Hause« eine Frauensperson befände, die in der Lage sei, Oliver seine natürliche Nahrung reichen zu können. Der Vorstand des Armenarbeitshauses erwiderte darauf untertänigst, daß dies leider nicht der Fall sei, worauf die Kirchspielbehörde den hochherzigen Entschluß faßte, Oliver in ein etwa drei Meilen entferntes Zweigarmenhaus bringen zu lassen, wo etwa zwanzig andre kleine Übertreter des Zuständigkeitsgesetzes unter der mütterlichen Aufsicht und ohne allzusehr mit Nahrung oder Kleidung behelligt zu werden auf dem Stubenfußboden umherkollerten, was mit achteinhalb Pence pro Kopf und Woche in Rechnung gestellt wurde. Mit achteinhalb Pence läßt sich nicht viel bestreiten, aber die würdige Hausdame war[6] eine kluge und erfahrene Frau und wußte, wie leicht sich Kinder überfressen können und was ihnen zuträglich ist; andrerseits aber auch, was ihr selbst zuträglich war. Sie verwendete daher den größeren Teil des Kostgeldes zu ihrem eigenen Wohl und verstand es auf diese Weise, die gesetzliche Grausamkeit noch um ein Beträchtliches zu vertiefen; sie bewies damit, wie weit sie es in der Experimentalphilosophie auf eigene Faust gebracht hatte.

Wohl jeder kennt die Geschichte des bekannten Experimentalphilosophen, der sich vorgenommen hatte, einem Pferde das Fressen abzugewöhnen, und diese Theorie so vorzüglich in die Praxis umsetzte, daß er sein Pferd bis auf einen Strohhalm pro Tag heruntertränierte und zweifelsohne ein außerordentliches, kräftiges, jedem Futter abholdes Tier aus ihm gemacht haben würde, wäre es nicht leider vierundzwanzig Stunden vor dem ersten kompletten Fasttag gestorben. Leider waren die Erfolge der erwähnten trefflichen Kostfrau nicht selten, was die Kirchspielkinder anbelangte, von gleichem Mißerfolg gekrönt, indem die Kleinen entweder vor Kälte oder Hunger, oder weil sie sich tödlich verletzten oder verbrannten, frühzeitig starben und zu ihren Vätern, die sie nie gekannt, versammelt wurden.

Stellten wirklich einmal die Vorstände schärfere Nachforschungen als sonst nach dem Verbleib irgend eines Waisenkindes an, oder mischte sich das Gericht hinein und beschwerte sich den Kopf mit überflüssigen Fragen, so schützte das Zeugnis und die Aussage des Arztes und des Kirchspieldieners die Treffliche jedesmal gegen Ungemach. Jedesmal hatte der erstere dann die Leichen geöffnet und begreiflicherweise nichts darin gefunden, oder letzterer beschwor rastlos, was dem Kirchspiel paßte, und lieferte damit einen Beweis seiner Hingebung und Selbstaufopferung. Besuchte das Vorstandskollegium von Zeit zu Zeit einmal die Zweiganstalt des Arbeitshauses, so versäumte es nie, jedesmal Tags zuvor den Kirchspieldiener vorauszusenden, damit auch alles in Ordnung sei. Und jedesmal sahen dann die Kleinen reinlich und gut genährt aus – –! Was konnte man mehr verlangen.

Daß dieses Pflege- und Ernährungssystem ein allzu[7] kräftiges Gedeihen der Kinder zur Folge gehabt hätte, ließ sich nicht erwarten, und so zeigte sich denn auch Oliver Twist von seinem neunten Geburtstage an als ein schwaches, bläßliches, im Wachstum zurückgebliebenes Kind. Dennoch lebte, ob von Natur oder als Erbschaft seiner Vorfahren, in Olivers Brust ein kräftiger energischer Geist, der dank der strengen Diät des Hauses Raum genug hatte, sich noch weiter zu entfalten.

Es war an Olivers neuntem Geburtstage. Während er diese Feier im Kohlenkeller zusammen mit zwei andern jungen Herrn beging, die sich gleich ihm von einer ordentlichen Tracht Prügel erholten, die ihnen zuteil geworden, weil sie sich erfrecht hatten hungrig gewesen zu sein, wurde Mrs. Mann, die treffliche Pflegefrau, durch das plötzliche Erscheinen Mr. Bumbles, des Kirchspieldieners, der seine Schritte dem Gartenpförtchen zulenkte, in Schrecken gesetzt.

»Du mein Gott, Mr. Bumbles, sind Sie's wirklich?« rief Mrs. Mann und steckte den Kopf anscheinend hocherfreut aus dem Fenster. »Susanna! Holen Sie gleich den kleinen Oliver herauf und die beiden andern Lausbuben und waschen Sie sie – ach, Mr. Bumbles, wie ich mich freue, Sie wieder einmal zu sehen!«

Mr. Bumble war nun aber ein wohlbeleibter und ebenso heißblütiger Herr, und daher rüttelte er anstatt auf diese freundliche Bewillkommnung in höflicher Weise zu antworten, wütend an der Gartenpforte und stieß mit dem Fuß in einer Weise dagegen, wie sie eben nur ein Kirchspieldiener beherrscht.

»Gott im Himmel,« rief Mrs. Mann aus dem Zimmer stürzend – die drei Jungen hatte man inzwischen weggebracht –, »ich habe ganz vergessen, daß ich der lieben Kleinen wegen das Gattertor von innen verriegelt habe. So spazieren Sie doch weiter, Sir. Bitte, treten Sie ein, Mr. Bumble.«

Ihre Einladung war von einem so freundlichen Lächeln begleitet, daß es sicherlich sogar das Herz eines Kirchenpresbyters erweicht haben würde; dennoch besänftigte es den Kirchspieldiener nicht im mindesten.

»Nennen Sie das einen respektvollen Empfang, Mrs. Mann?« fragte Mr. Bumble und faßte seinen[8] Amtsstab noch fester, »daß Sie die Kirchspielbeamten an Ihrer Türe warten lassen, wenn sie in Parochialangelegenheiten und in betreff der Parochialkinder hierher kommen? Sie wissen doch, Mrs. Mann, daß Sie von der Parochialbehörde angestellt sind und von der Parochialbehörde bezahlt werden!«

»Ich erzählte gerade einem paar der lieben Kleinen, Mr. Bumble, derentwegen Sie so freundlich sind sich herzubemühen, daß Sie kommen würden,« wendete Mrs. Mann mit großer Unterwürfigkeit ein.

Mr. Bumble hatte eine sehr hohe Meinung von seiner Rednergabe und seiner amtlichen Wichtigkeit. Er hatte soeben die eine entfaltet und die andre gewahrt. Er schlug daher einen milderen Ton an.

»Nun, nun, Mrs. Mann,« sagte er, »ich bezweifle das ja gar nicht. Lassen Sie mich aber jetzt hinein, Mrs. Mann. Ich komme in Geschäften und habe Ihnen etwas mitzuteilen.«

Mrs. Mann führte den Kirchspieldiener in ein kleines Sprechzimmer, bot ihm einen Sessel an und legte dienstbeflissen seinen dreieckigen Hut und seinen Amtsstab auf den Tisch. Mr. Bumble wischte sich den Schweiß von der Stirn, blickte wohlgefällig auf seinen Dreispitz und lächelte. Wirklich und wahrhaftig, er lächelte! Aber Kirchspieldiener sind eben auch nur Menschen, daher lächelte Mr. Bumble.

»Sie dürfen jetzt nicht beleidigt sein wegen dem, was ich Ihnen sagen will,« begann Mrs. Mann mit bestrickender Liebenswürdigkeit. »Sie haben einen weiten Weg hinter sich, sonst würde ich gar nicht davon anfangen, aber sagen Sie, wollen Sie nicht ein Gläschen nehmen?«

»Nicht einen Tropfen, nicht einen Tropfen,« wehrte Mr. Bumble ab und schwenkte seine Rechte in würdevoller, aber freundlicher Weise.

»Sie werden mir gewiß den Gefallen tun,« beharrte Mrs. Mann auf ihrer Bitte, den Ton, in dem die Weigerung gesprochen worden, aber auch die begleitende Gebärde wohl erfassend. »Nur ein ganz kleines Gläschen mit einem bißel kaltem Wasser und einem Stückchen Zucker?«[9]

Mr. Bumble hüstelte.

»Nur ein ganz kleines Gläschen,« wiederholte Mrs. Mann ihre Bitte in dringendem Ton.

»Was ist es denn?« fragte der Kirchspieldiener.

»Ach Gott, ich muß immer ein bißerl davon hier haben, daß ich den lieben Kleinen eine kleine Herzstärkung geben kann, wenn ihnen nicht recht gut ist, Mr. Bumble,« erwiderte Mrs. Mann, öffnete ein Schränkchen und holte eine Flasche und ein Glas her vor. »Es ist Genevre, ich will Ihnen nichts vormachen, Mr. Bumble, es ist nur Genevre.«

»Geben Sie denn den Kindern Schnaps, Mrs. Mann?« fragte der Kirchspieldiener und verfolgte mit den Blicken den interessanten Prozeß der Mischung.

»O mein, ich tue's halt, so teuer es auch kommen mag,« versetzte die Pflegefrau. »Sie wissen doch, ich könnt die armen Kleinen niemals nicht leiden sehen.«

»Nein, nein,« sagte Mr. Bumble zustimmend, »Sie können es nicht. Sie sind überhaupt eine sehr humane Frau« – dabei setzte sie das Glas vor ihn hin – »ich werde nicht versäumen, bei der nächsten besten Gelegenheit es den Vorständen gegenüber zur Sprache zu bringen, Mrs. Mann«, (dabei zog er das Glas näher zu sich) »Sie fühlen wie eine Mutter«, (dabei ergriff er das Glas) »ich trinke hiermit auf Ihre Gesundheit, Mrs. Mann« (dabei goß er das Glas zur Hälfte hinunter). »So und jetzt wollen wir vom Geschäft reden,« sagte er und holte ein ledernes Taschenbuch hervor. »Der Knabe, der in der Waisentaufe den Namen Oliver Twist bekommen hat, wird heute neun Jahre alt.«

»Gottes Segen über ihn,« warf Mrs. Mann dazwischen und konnte nicht umhin, sich die Augen mit der Schürze zu trocknen.

»Trotz der ausgeschriebenen Belohnung von zehn Pfund, und später sogar von zwanzig Pfund, und trotz der geradezu übernatürlichen Anstrengungen des Kirchspiels,« fuhr Mr. Bumble fort, »sind wir nicht imstande gewesen, seinen Vater zu eruieren oder in Erfahrung zu bringen, wie seine Mutter hieß, was sie war und woher sie stammte.«

Mrs. Mann hob erstaunt die Hände gen Himmel,[10] dachte einen Augenblick nach und fragte: »Wie kommt es denn dann, daß er überhaupt einen Namen hat?«

Der Kirchspieldiener warf sich in die Brust und antwortete: »Den hab ich erfunden.«

»Sie, Mr. Bumble?«

»Jawohl, ich, Mrs. Mann. Wir benennen unsre Zöglinge immer nach dem Alphabet. Zuletzt hielten wir bei S – Swubble, so nannte ich das vorletzte Waisenkind, und der nächste war ein T – Twist; ich habe ebenfalls den Namen erfunden. Wenn wieder einer kommt, wird er Unwin heißen, und der Nächstfolgende Vilkins. Ich habe mir schon eine ganze Reihe von Namen ausgedacht, durchs ganze Alphabet hindurch; und wenn ich bei Z angekommen bin, fange ich beim A wieder an.«

»Ja, ja, Sie sind halt fast ein Dichter,« sagte Mrs. Mann.

»Nun, nun, mag sein,« gab der Kirchspieldiener zu, durch dieses Kompliment sichtlich geschmeichelt; »mag sein, Mrs. Mann.« Damit trank er sein Glas aus und setzte hinzu: »Oliver ist jetzt schon viel zu alt, um noch länger hier bleiben zu dürfen. Deshalb hat die Behörde beschlossen, ihn wieder zurück ins Arbeitshaus zu nehmen. Ich bin selber hergekommen, um ihn abzuholen. Wo steckt er?«

»Ich werde ihn sogleich holen,« sagte Mrs. Mann und ging zur Türe.

Gleich darauf erschien sie wieder mit Oliver, der inzwischen gewaschen, gestriegelt und angekleidet worden war.

»Mach ein Buckerl vor dem Herrn, Oliver,« sagte sie.

Oliver machte einen Kratzfuß, der zur Hälfte dem Kirchspieldiener und zur andern Hälfte dem Dreispitz auf dem Tische galt.

»Willst du mit mir gehen, Oliver?« fragte Mr. Bumble feierlichst.

Oliver wollte schon antworten, daß er jederzeit aufs bereitwilligste mit wem immer fortzugehen willens sei, blickte aber zufällig dabei Mrs. Mann an, die hinter den Stuhl des Kirchspieldieners getreten war und Oliver mit fürchterlicher Miene mit der Faust drohte. Er begriff[11] sofort, denn er wußte nur zu gut, was diese Faust alles vermochte.

»Kommt sie auch mit?« fragte er schüchtern.

»Nein, sie kann nicht mitkommen,« sagte Mr. Bumble, »aber sie wird dich schon zuweilen besuchen dürfen.«

Das war gewiß kein besonderer Trost für Oliver, aber trotz seiner Jugend hatte er Grütze genug, sich zu stellen, als verließe er das Haus nur ungern, und überdies waren ihm die Tränen infolge des ewigen Hungerleidens und der erst vor kurzem erfahrenen Züchtigung näher als das Lachen. Wiederholt umarmte ihn Mrs. Mann und gab ihm, was er am meisten brauchte, nämlich ein großes Stück Butterbrot, damit er im Arbeitshaus nicht allzu hungrig ankäme. Damit war die Sache abgemacht. Mit dem Stück Brot in der Hand und seiner kleinen Waisenjungenkappe aus braunem Tuch auf dem Kopf, wurde er sogleich von Mr. Bumble aus dem fürchterlichen Heim geführt, wo niemals der Strahl eines freundlichen Blickes die Finsternis seiner ersten Kinderjahre erhellt hatte. Dennoch konnte er Tränen kindlichen Schmerzes nicht zurückdrängen, als sich das Gartentor hinter ihm schloß; verließ er doch seine Leidensgefährten, die einzigen Kameraden, die er je gekannt, und jetzt zum erstenmal, seit er wußte, was Erinnerung ist, wurde ihm das Gefühl gänzlicher Verlassenheit in der großen weiten Welt bewußt.

Mit schnellen Schritten eilte Mr. Bumble vorwärts, und der kleine Oliver klammerte sich an seine mit Goldborten besetzten Schöße, trottete neben ihm her und fragte, als sie kaum eine Viertelmeile hinter sich hatten, ob sie bald am Ziele wären. Auf diese öfters wiederholten Fragen gab Mr. Bumble jedesmal nur sehr kurze und brummige Antworten, denn die Milde, die der Genevre mit heißem Wasser gemischt in seinem Gemüt vielleicht erzeugt haben müßte, war längst verflogen, und er fühlte sich wieder Kirchspieldiener vom Scheitel bis zur Sohle.

Oliver war noch nicht eine Viertelstunde innerhalb der Mauern des Arbeitshauses und hatte kaum ein zweites Stückchen Brot verschlungen, als Mr. Bumble, der ihn der Obhut einer alten Frau inzwischen anvertraut,[12] zurückkehrte und ihm erklärte, die Herren Vorstände hätten befohlen, er solle unverzüglich vor ihnen erscheinen.

Oliver, der keine besonders klare Vorstellung von dem hatte, was ein Vorstand alles sein kann, war von dieser überraschenden Mitteilung förmlich betäubt und wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Es blieb ihm jedoch keine Zeit über diesen Punkt ins reine zu kommen, denn Mr. Bumble versetzte ihm eins mit dem Stock über den Kopf, um seine Geisteskräfte zu erwecken, und eins über den Rücken, um ihn zur Eile anzuspornen. Dann befahl er, ihm zu folgen, und führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, in dem acht oder zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch herumsaßen. Zu oberst in einem Armstuhl, der ein bißchen höher war als die übrigen, ein ganz besonders wohlbeleibter Herr mit einem kugelrunden roten Kopf.

»Mach' den Herrn Vorständen deine Verbeugung,« befahl Mr. Bumble.

Oliver wischte sich die Tränen aus den Augen und, da er nicht recht begriff, wer von den Anwesenden die Herren Vorstände sein könnten, machte er instinktiv und aufs Geratewohl einen Kratzfuß.

»Wie heißt du, Junge?« fragte der Herr auf dem hohen Stuhl.

Oliver zitterte am ganzen Leib, denn der Anblick so vieler Gentlemen brachte ihn gänzlich außer Fassung. Mr. Bumble versuchte ihn durch eine kräftige Berührung mit seinem Kirchspieldienerstab zu belehren, und das hatte zur Folge, daß er wiederum anfing zu weinen. Er antwortete daher mit leiser und zaghafter Stimme, und das veranlaßte einen Herrn in einer weißen Weste auszurufen, er wäre ein dummer Junge – das beste Mittel, ihm Mut einzuflößen.

»Junge,« begann der Herr in dem hohen Stuhl abermals, »höre jetzt, was ich dir zu sagen habe. Du weißt doch, daß du ein Waisenkind bist?«

»Was ist das, Sir?« fragte der unglückliche Oliver.

»Er ist wirklich ein dummer Junge, ich hab' mir's gleich gedacht,« sagte der Herr mit der weißen Weste.

»Du weißt doch,« nahm der erste Herr wieder das[13] Wort, »daß du weder Vater noch Mutter hast und vom Kirchspiel erzogen wirst?«

»Ja,« antwortete Oliver unter Tränen.

»Warum heulst du?« fragte der Herr mit der weißen Weste, denn es war doch höchst auffallend, daß Oliver weinte. Welchen Grund konnte er nur haben?

»Ich hoffe, du betest doch jeden Abend,« fragte ein anderer Gentleman in barschem Ton, »und betest für die, die dir zu essen geben und für dich sorgen, so wie es einem Christenmenschen geziemt.«

»Ja, Sir,« hauchte Oliver. In Wirklichkeit hatte er jedoch nie gebetet, weil es ihn niemand gelehrt hatte.

»Man hat dich hierhergerufen,« fuhr der Präsident fort, »um dich erziehen zu lassen, und damit du ein nützliches Handwerk lernst.« – »Du wirst also morgen früh um sechs Uhr anfangen Werg zu zupfen,« setzte der mürrische Gentleman mit der weißen Weste hinzu.

Zum Dank für die Ankündigung dieser beiden Wohltaten machte Oliver unter Nachhilfe des Kirchspieldieners einen tiefen Kratzfuß vor den »Herren Vorständen« und wurde dann in einen großen Saal gesteckt, wo er sich auf einem harten rauhen Bett in den Schlaf weinen durfte.

Der arme Oliver ahnte nicht, wie er so dalag und schlief, daß die Herren Vorstände noch am selben Tage zu einem Entschluß gelangten, der von größtem Einfluß auf sein künftiges Geschick sein sollte.

Die Herren Vorstandsmitglieder waren äußerst kluge Männer von tiefer philosophischer Einsicht, und kaum hatten sie ihre Tätigkeit dem Arbeitshause und was damit zusammenhing zugewendet, so fanden sie auch sofort heraus, was ein gewöhnlicher Sterblicher kaum jemals entdeckt hätte, nämlich: daß es darin den Armen ganz über Gebühr gut gehe. Als wäre das Arbeitshaus nichts als ein öffentliches Vergnügungslokal für die ärmeren Klassen, eine Kneipe, in der man nichts zu bezahlen brauche, ein Ort, an dem man auf Kosten der Gemeinde Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendbrot einnehmen könne – ein Elysium aus Ziegelsteinen und Mörtel, in dem gescherzt und gespielt, in Wirklichkeit aber nicht gearbeitet würde. Wir sind die richtigen[14] Männer, um hier Ordnung zu schaffen, sagte sich die Vorstandschaft. Und so ordneten sie denn an, daß alle armen Leute die Wahl haben sollten – von Zwang könne natürlich keine Rede sein –, entweder langsam und nach und nach im Arbeitshaus zu verhungern, oder schnell und plötzlich außerhalb. Von diesem Gesichtspunkte aus schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über Lieferung einer unbegrenzten Menge Trinkwassers und mit einem Getreidehändler einen ebensolchen, was die jeweilige Lieferung von kleinen Quantitäten Hafermehl anbelangte, und gaben täglich drei Portionen Haferschleim aus und außerdem zweimal wöchentlich eine Zwiebel dazu pro Mahlzeit und Sonntags eine halbe Semmel.

Im ersten Halbjahr nach Olivers Ankunft war das System bereits in vollem Gange. Der Raum, in dem die Knaben ihr Essen bekamen, war eine Art Küche, und der Koch, von ein paar Frauenzimmern unterstützt, teilte ihnen aus einem Kupferkessel ihre drei Portionen Hafer zu – einen Napf voll und nicht mehr, ausgenommen, wie gesagt, die Sonn- und Feiertage, wo ein nicht allzu großes Stückchen Brot dazukam. Die Näpfe auszuwaschen war überflüssig, da die Jungen mit ihren Löffeln sowieso so lange darin herumkratzten, bis alles wieder glänzend war. Und wenn sie mit ihrer Tätigkeit fertig waren, was nie allzulange Zeit in Anspruch nahm, da die Löffel beinahe so groß waren wie die Näpfe selber, – saßen sie da und starrten auf den Kupferkessel mit so gierigen Augen, als ob sie am liebsten sogar die Ziegelsteine, aus denen der Herd aufgebaut war, verschlungen hätten, und saugten dabei an ihren Fingern in der Hoffnung, dort vielleicht noch irgendwo ein verirrtes Tröpfchen Haferschleim aufzulecken. Kinder pflegen nämlich einen vortrefflichen Appetit zu haben.

Drei Monate lang hatten Oliver und seine Kameraden die Qualen langsamen Hungertodes durchgemacht und waren kaum mehr imstande, diesen Zustand länger zu ertragen. Ein für sein Alter sehr großer Junge, dessen Vater Koch gewesen war, gab eines Tages sei nen Gefährten zu verstehen, wenn er nicht bald eine Schüssel Haferschleim pro Tag mehr bekomme, so würde er sich[15] nicht helfen können und müsse höchst wahrscheinlich eines Nachts seinen Schlafnachbar auffressen. Dieser Vielfraß hatte ein wildes hungriges Auge, und seine Reden riefen große Angst unter seinen Kameraden hervor. So beratschlagten sie untereinander, und es wurde gelost, wer von ihnen nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und noch um einen Napf bitten solle. Das Los fiel auf Oliver.

Der Abend kam, und die Jungen nahmen ihre Plätze ein. Der Speisemeister stellte sich in seiner weißen Kochschürze an den Kessel, der Haferbrei wurde ausgeteilt und ein langes Tischgebet gesprochen. Als die Mahlzeit vorüber war, flüsterten die Jungen untereinander, gaben Oliver Winke, und die ihm Zunächstsitzenden stießen ihn mit den Ellbogen an. Der Hunger machte ihn alle Rücksichten vergessen. Er stand auf, trat mit Napf und Löffel vor den Koch hin und sagte mit bebender Stimme:

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, ich möchte noch um ein wenig bitten.«

Der Koch, ein feister rotbackiger Mann, wurde blaß wie der Kalk an der Wand. In maßlosem Staunen starrte er einige Sekunden den kleinen Rebellen an und mußte sich am Kessel festhalten, um nicht umzufallen. Die beiden Frauenzimmer waren geradezu gelähmt vor Entsetzen, und auch die Jungen konnten vor Furcht kein Wort hervorbringen.

»Was?« fragte der Koch endlich mit schwacher Stimme.

»Ich bitte, Herr,« wiederholte Oliver, »ich möchte noch etwas haben.«

Der Koch gab ihm eins mit dem Löffel über den Kopf, faßte ihn dann am Arm und schrie laut nach dem Kirchspieldiener.

Die Herren Vorstände saßen gerade zusammen bei einer Beratung, als Mr. Bumble in höchster Erregung ins Zimmer stürzte und dem Herren auf dem hohen Stuhl meldete:

»Mr. Limbkins, ich bitte um Verzeihung, Sir, Oliver Twist hat mehr zu essen verlangt.«

Alles fuhr auf. Entsetzen malte sich auf allen Gesichtern.[16]

»Mehr?« rief Mr. Limbkins. »Kommen Sie zu sich, Bumble! Antworten Sie mir klar und deutlich. Verstehe ich recht? Er hat mehr gefordert als die ihm von der Vorstandschaft festgesetzte Ration?«

»Jawohl, Sir.«

»Der Bursche kommt noch an den Galgen,« ächzte der Gentleman mit der weißen Weste. »Denken Sie an mich, der Bursche kommt noch an den Galgen.«

Niemand widersprach, und es entspann sich eine lebhafte Diskussion. Auf Befehl der Vorstandschaft wurde Oliver augenblicklich eingesperrt, und am nächsten Morgen hing ein Anschlagzettel an der Außenseite des Tores des Arbeitshauses, auf dem eine Belohnung von fünf Pfund ausgesetzt war für jeden, der die Gemeinde der weiteren Fürsorge für Oliver Twist enthöbe; mit anderen Worten: es wurden fünf Pfund jedermann angeboten, der Oliver Twist als Lehrling oder Laufburschen zu sich nähme.

»In meinem ganzen Leben war ich noch von nichts so fest überzeugt,« sagte der Gentleman mit der weißen Weste, als er am nächsten Morgen an das Tor klopfte und den Zettel las, »wie ich jetzt davon überzeugt bin, daß der Bursche noch einmal an den Galgen kommen wird.«

Quelle:
Dickens, Charles: Oliver Twist. München 1914, S. 6-17.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Tschechow, Anton Pawlowitsch

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Das 1900 entstandene Schauspiel zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon