Viertes Kapitel

[26] Oliver erhält eine Stelle und tritt ins öffentliche Leben ein.


Die Herren Vorstände hatten Mr. Bumble beauftragt, sich zu erkundigen, ob nicht vielleicht ein Stromschiffer einen Lehrjungen brauche. Es war im allgemeinen üblich, Waisenkinder oder solche, die man gern loswerden wollte, zur See zu schicken. Als der Kirchspieldiener zurückkehrte, traf er vor dem Tore zufällig Mr. Sowerberry, den Leichenbestatter des[26] Kirchspiels. Mr. Sowerberry war ein großer hagerer knochiger Mann in einem schwarzen fadenscheinigen Anzug, mit schäbigen Baumwollstrümpfen gleicher Farbe und dementsprechendem Schuhzeug angetan. Schon von Natur aus trugen seine Züge nicht gerade einen lächelnden Ausdruck, aber zufällig befand er sich heute in der heitern Laune, die sein Gewerbe mit sich brachte. Sein Schritt war elastisch, und sein Antlitz zeugte von innerem Frohsinn, wie er so auf Mr. Bumble zuschritt und ihm herzlich die Hand schüttelte.

»Ich habe den beiden Frauen Maß genommen, die wo gestern nacht gestorben sin, Mr. Bumble,« sagte er.

»Sie werden noch mal ein reicher Mann werden, Mr. Sowerberry,« bemerkte Mr. Bumble und steckte Daumen und Zeigefinger in die hingereichte Schnupftabaksdose des Leichenbestatters, die sinnig ein kleines Modell eines Sarges darstellte. »Ich sags immer, Sie werden noch einmal ein reicher Mann, Mr. Sowerberry,« wiederholte Mr. Bumble und klopfte dem Leichenbestatter vertraulich auf die Schulter.

»Glauben Sie?« fragte der Leichenbestatter in einem Ton, halb zustimmend, halb ablehnend. »Die Kosten, die wo mir die Herren Vorstände bewillichen, sin sehr niedrich.«

»Ihre Särge aber auch,« erwiderte der Kirchspieldiener und verzog sein Gesicht zu einem Lächeln, das seiner hohen Stellung angemessen war.

Mr. Sowerberry fühlte sich durch diese Herablassung nicht wenig geschmeichelt und lachte eine Weile geziemend.

»Nun ja, Mr. Bumble,« sagte er schließlich. »Zu leuchnen ist freilich nich, daß seit Einführung des neuen Systems die Särge niedricher und kürzer geworden sind, als sie sonst waren, aber schließlich muß man sie doch haben, Mr. Bumble. Gutes trocknes Holz ist nich billich und die Beschläge beziehe ich direkt aus den Eisenfabriken in Burmingham.«

»Jawohl, jawohl, ich weiß, ich weiß,« sagte Mr. Bumble. »Jedes Geschäft hat so seine kleinen Kniffe, und das nimmt man auch nicht übel.«

»Natürlich nich, natürlich nich,« stimmte der Leichenbestatter[27] ein. »Wenn auch bei meinem Artikel nich viel zu verdienen is, so muß ich eben schauen, es anderswo wieder hereinzubringen – hihihi.«

»Sehr richtig,« sagte Mr. Bumble. »Übrigens so nebenbei: wissen Sie nicht jemanden, der einen Lehrjungen brauchen könnte; einen Jungen aus dem Arbeitshaus, einen, der uns nicht vom Hals geht, und den wir am Bein haben wie eine Kette. Feine Bedingungen, Mr. Sowerberry! Sehr feine Bedingungen!« dabei deutete Mr. Bumble mit seinem Stock auf den Zettel, der auf dem Tor klebte, und führte drei nachdrückliche Schläge gegen die Worte »fünf Pfund«, die dort mit großen Lettern zu lesen waren.

»Saperment, Saperment,« rief der Leichenbestatter und faßte Mr. Bumble an einem seiner goldnen Knöpfe. »Darüber wollte ich gerade mit Ihnen sprechen. Übrigens alle Achtung, was für ein eleganter Knopf ist das, Mr. Bumble. Den habe ich ja noch nie an Ihnen gesehen.«

»Ja, ja, er ist ganz hübsch,« sagte der Kirchspieldiener und blickte mit Stolz auf seine großen Metallknöpfe. »Und das Wappen des Kirchspiels ist drauf. Sie sehen: der barmherzige Samariter, wie er sich des Kranken annimmt. Die Herren Vorstände verliehen mir das Wappen an jenem Morgen, Mr. Sowerberry, als ein Arbeiter damals infolge Übernachtens in einem Torwege erfroren war.«

»Ja, ja, ich erinnere mich,« sagte der Leichenbestatter. »Die Leichenbeschaukommission fällte damals den Spruch: gestorben infolge Erfrierens und aus Mangel an den gewöhnlichsten Lebensbedürfnissen. Wars nich so?«

Mr. Bumble nickte. »Ja, ja, die Leichenbeschauer,« sagte er und faßte seinen Stock fester, – was er immer tat, wenn er ärgerlich wurde. »Unsre Leichenbeschauer sind ein ganz ungebildetes dummes Pack.«

»Ja, das stimmt,« erwiderte Sowerberry.

Mr. Bumble nahm seinen Dreispitz ab, nahm das darin befindliche Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn, den der Ärger seinem Haupte entlockt, und setzte den Hut wieder auf. Dann wandte er sich mit verändertem Ton an den Leichenbestatter.

»Na also, wie ist's, was solls mit dem Jungen?«[28]

»Nun, Sie wissen,« erwiderte der Leichenbestatter. »Sie wissen, Mr. Bumble, ich trache eine hübsche Summe mit zu den Armensteuern bei.«

»Hem,« hüstelte Mr. Bumble. »Na und?«

»Na und da dachte ich,« fuhr Sowerberry fort, »wenn ich schon so viel zahle, habe ich vielleicht auch ein Recht, es anderweits irchendwo wieder hereinzubringen, Mr. Bumble. Na und da dachte ich, ich könnte den Jungen vielleicht nehmen.«

Mr. Bumble ergriff ihn am Arm und führte ihn sofort ins Haus. Dann schloß er sich fünf Minuten mit ihm ein, und es wurde zwischen ihnen vereinbart, daß Oliver noch heute Abend zu Mr. Sowerberry kommen sollte – vorderhand nur zur Probe – eine Phrase, die, auf einen Kirchspielwaisenknaben angewendet, weiter nichts zu bedeuten hatte, als daß der Lehrmeister berechtigt war, wenn er nach einer kurzen Probezeit bemerkte, daß der Junge mehr zu arbeiten imstande war, als er Essen brauchte, mit diesem eine bestimmte Zahl von Jahren verfahren konnte, wie es ihm beliebte.

Als der kleine Oliver noch am selben Abend den Herren Vorständen vorgeführt wurde und erfuhr, er solle sogleich zu einem Sargtischler als Laufbursche in die Lehre gegeben oder zur See geschickt werden, falls er sich unterfangen sollte aufzumucken, da legte Oliver so wenig Erregung an den Tag und blieb so stumpf allem gegenüber, was er anhören mußte, daß man ihn einstimmig als einen der verstocktesten jungen Galgenvögel erklärte; Mr. Bumble bedeutete ihm, sofort mitzukommen.

Wenn es auch weiter nicht zu verwundern war, daß die Herren Gemeindevorstände darüber in Entrüstung gerieten, daß sich ein junger Mensch, der ihrer Fürsorge anvertraut war, in einem solchen Falle gänzlich empfindungslos zeigte, so beurteilten sie dennoch den Fall ganz falsch. Die Sache lag einfach so, daß Oliver nicht nur nicht empfindungslos war, sondern vielmehr infolge der schlechten Behandlung, die er erfahren, sich auf dem besten Wege befand, für sein ganzes Leben in einen Zustand tierischer Stumpfheit und geistiger Umnachtung zu versinken. Unbeweglich und stumm hörte er die an ihn gerichteten Worte an, scheinbar vollständig[29] gleichgültig gegenüber seinem weiteren Schicksal. Nachdem man ihm sein Bündel, bestehend aus einem kleinen Paket, in die Hand gedrückt, zog er seine Mütze über die Augen und ließ sich widerstandslos von Mr. Bumble hinausführen. Eine Zeitlang schleifte ihn der Kirchspieldiener hinter sich her, ohne ihn eines Blickes oder Wortes zu würdigen. Es war ein windiger Tag, und wenn der Luftzug Mr. Bumbles Rockschöße aufwehte, wobei die langzipflige Kirchspieldienerweste und die Kniehosen aus gelbem Samt sich den Blicken enthüllten, verschwand der kleine Oliver fast ganz hinter den flatternden Kleidungsstücken. Als sie sich knapp vor ihrem Ziel befanden, hielt es Mr. Bumble für an der Zeit, seinen Blick zu senken und sich zu überzeugen, ob der Junge soweit präsentabel sei, um das Wohlgefallen seines neuen Meisters und Herrn erwecken zu können.

»Oliver!« sagte er.

»Ja, Sir?« erwiderte Oliver mit bebender Stimme.

»Schieb dir die Mütze aus der Stirn, Junge, und halte dich gerade.«

Trotzdem Oliver augenblicklich gehorchte und sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen fuhr, schimmerte doch noch eine Träne darin, und wie Mr. Bumble mit Strenge auf ihn herniederblickte, rollte ihm die Träne die Wange hinunter. Eine zweite Träne folgte und noch eine dritte. Der Kleine gab sich alle Mühe, aber es half nichts. Er zog die andre Hand aus Mr. Bumbles Hand, bedeckte sein Gesicht und weinte, bis ihm die Tränen über das Kinn herabtropften und zwischen den magern Fingern hervorquollen.

»Da hört sich doch alles auf,« rief Mr. Bumble, blieb stehen und runzelte wütend die Augenbrauen. »Von all den undankbarsten verdorbensten Waisenbuben, Oliver, die mir je untergekommen sind, bist du doch der schlimmste.«

»Nein, nein, Sir,« schluchzte Oliver und klammerte sich wieder an die Hand, die den wohlbekannten Stock hielt. »Nein, nein, Sir, ich will ja brav sein, wirklich, ich will es. Ich bin ja noch so klein, Sir, und so – so –«

»Was denn – so?« forschte Mr. Bumble erstaunt.[30]

»So einsam und verlassen, Sir, so schrecklich einsam,« schluchzte der Kleine. »Niemand kann mich leiden. Bitte, seien Sie nicht auch noch böse auf mich.«

Dabei drückte er die Hand aufs Herz und blickte seinem Begleiter ins Gesicht, während Tränen tiefsten Schmerzes seine Augen füllten.

Ein paar Sekunden lang betrachtete Mr. Bumble Olivers hilfeflehendes Gesicht voll Erstaunen, dann hüstelte er ein paarmal verlegen, murmelte ein paar Worte über das dumme Wetter und ermahnte ihn, ein guter Junge zu sein. Dann faßte er ihn wieder bei der Hand und ging schweigend mit ihm weiter.

Der Leichenbestatter hatte eben seinen Laden geschlossen und machte gerade beim Schimmer einer Talgkerze ein paar Eintragungen in sein Kontobuch, als Mr. Bumble eintrat.

»Aha,« rief er und blickte von dem Buche auf. »Sie sind es, Bumble.«

»Jawohl, ich bins,« erwiderte der Kirchspieldiener. »Hier ist er. Ich habe Ihnen den Jungen mitgebracht.«

Oliver machte einen Kratzfuß.

»Also das ist der Junge, was?« fragte der Leichenbestatter und hielt die Kerze in die Höhe, um den Kleinen besser besichtigen zu können. »Liebe Frau, sei einmal so gut und komm einen Augenblick her.«

Mrs. Sowerberry tauchte aus einem kleinen Zimmer hinter dem Laden auf, und auf den ersten Blick konnte man erkennen, daß sie eine kleine hagere Person mit zänkischem Gesichtsausdruck war.

»Liebe Frau,« begann Mr. Sowerberry betreten, »das ist der Junge aus dem Armenhaus, von dem ich dir erzählt habe.« – Oliver machte abermals einen Kratzfuß.

»Gott im Himmel,« rief die Frau, »ist der aber klein!«

»Freilich, ein wenig klein ist er,« gab Mr. Bumble zu und sah Oliver mit einem strafenden Blick an, als ob dieser die Schuld daran trage, daß er nicht größer geworden sei. – »Klein ist er, das läßt sich nicht bestreiten. Aber er wird schon noch wachsen, Mrs. Sowerberry.«[31]

»Ja, ja, auf unsre Kosten!« zankte die Frau verdrießlich. »Und bei dem, was bei uns auf den Tisch kommt. Ich kenne schon die Armenhauskinder, die fressen immer mehr, als sie wert sind. Aber die Männer wissen natürlich immer alles am besten. Marsch, die Treppe hinunter, du Häufchen Unglück!« Mit diesen Worten öffnete Mrs. Sowerberry eine kleine Tür und drängte Oliver eine steile Treppe hinab in einen feuchten finstern Keller, der den Vorraum zum Kohlenkeller bildete und die Bezeichnung Küche trug. Dort saß ein schlumpiges Dienstmädchen mit Schuhen mit schiefen Absätzen und blauen Strümpfen voll großer Löcher, die offenbar schon seit langem auf Reparatur warteten.

»Hier, Charlotte,« sagte Mrs. Sowerberry, »gib dem Jungen ein paar von den Resten, die für Trip aufgehoben worden sind. Seit morgens streunt das Biest auf der Gasse herum, da soll es sich mal hungrig zu Bett legen. Hoffentlich ist der Bursche da nicht zu heikel. He, Junge, was sagst du dazu?«

Oliver, dessen Augen, als von Essen die Rede war, aufgeleuchtet hatten, zitterte förmlich vor Gier und beteuerte, daß er durchaus nicht heikel sei; und daraufhin wurde ihm eine Schüssel Speisenabfälle vorgesetzt.

Wenn da nur so ein gewisser sattgefressener Theoretiker mit einem Herzen von Stein zugesehen hätte, wie sich Oliver Twist über das Futter hermachte, das für den Hund bestimmt war, und die Gier, mit der er die Bissen auseinanderriß – halbohnmächtig von Hunger. Noch besser, wenn ein solcher Theoretiker selbst einmal gezwungen wäre, sich über eine derartige Sorte Futter herzumachen ...

»Na?« fragte die Frau Leichenbestatterin, als Oliver mit allem gründlich aufgeräumt hatte, stumm vor Entsetzen und böser Ahnung, wie das mit dem Appetit des Lehrjungen in Hinkunft weitergehen würde. »Na, bist du jetzt fertig?«

Da nichts Eßbares mehr vorhanden war, antwortete Oliver mit »Ja«.

»Also, dann komm mit,« brummte Mrs. Sowerberry, nahm eine trübbrennende schmutzige Lampe und ging ihm die Treppe voraus hinauf. »Da hier unter[32] dem Ladentisch ist ein Bett. Hoffentlich machst du dir nichts daraus in den Särgen zu schlafen, was? Aber mir kanns gleichgültig sein, ob dir's etwas ausmacht oder nicht. Kurz und gut: hier ist dein Bett. So, jetzt mach dich fertig, ich hab' keine Lust, die ganze Nacht hier zu stehen.«

Schüchtern und schweigend gehorchte Oliver.

Quelle:
Dickens, Charles: Oliver Twist. München 1914, S. 26-33.
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