Fünfzehntes Kapitel

[105] Zeigt, wie überaus lieb der alte Jude und Miß Nancy Oliver Twist hatten.


In dem finstern Gastzimmer einer schmutzigen, im verkommensten Teile von Little Saffron Hill gelegenen, unheimlich düstern Höhle, wo zur Winterszeit den ganzen Tag über eine Gasflamme flackerte und zur Sommerszeit auch nicht ein Sonnenstrahl hineinschien, saß brütend über einem kleinen zinnernen Branntweinkrug und einem kleinen Glas, von Fusel duftend, ein Mann in einem Manchesterrock, grauen Kniehosen, Schnürstiefeln und Strümpfen, den selbst bei dieser Finsternis ein erfahrener Kriminalist sofort als Mr. William Sikes erkannt haben würde. Zu seinen Füßen lag ein Hund mit weißen zottigen Haaren und roten Augen und blinzelte zu ihm empor, von Zeit zu Zeit sich eine Schnittwunde an seiner Oberlippe beleckend, die ihm allem Anscheine nach erst vor kurzem zugefügt worden war.

»Kusch, Mistvieh!« rief Mr. Sikes plötzlich. Ob seine Gedanken so tiefsinniger Art waren, daß ihn schon das Blinzeln des Hundes gestört hatte, oder ob es nur seine Gewohnheit war, von Zeit zu Zeit dem Hunde, auch wenn er nichts getan hatte, einen Fußtritt zu versetzen, läßt sich nicht sagen. Im allgemeinen haben Hunde nicht die Gewohnheit, ihren Herrn deren Handlungen nachzutragen, aber der Hund Mr. Sikes schien anders geartet zu sein, denn, wenn er auch nicht bellte, so biß er ihn doch in einen seiner Schnürstiefel. Dann zog er sich knurrend unter die Bank zurück, mit knapper Not dem Zinnkrug ausweichend, den ihm Mr. Sikes nachwarf.[105]

»Hast wohl Lust, was?« rief Mr. Sikes, ergriff eine Feuerzange mit der Rechten und klappte mit der andern ein großes Messer, das er aus der Tasche nahm, auf. »So ne verdammte Bestie! Verstanden!«

Zweifellos hörte der Hund Mr. Sikes Befehl, schien aber nicht die geringste Lust zu haben, sich die Kehle durchschneiden zu lassen. Er blieb also, wo er war, und knurrte nur noch wütender als zuvor, sprang dann zu und packte den Schürhaken mit den Zähnen und biß wie ein wildes Tier hinein.

Das steigerte die Wut Mr. Sikes noch heftiger. Er kniete nieder und schlich bösartig auf das Tier zu. Der Hund sprang dabei nach rechts und links, immer schnappend, knurrend und kläffend. Mr. Sikes schwur und fluchte und stach drauflos, so daß der Kampf bereits auf einem höchst kritischen Punkt angelangt war, als die Türe plötzlich aufging und der Hund hinauseilte, während Mr. Sikes mit dem Schürhaken und dem Taschenmesser in der Hand sich aufrichtete. »Zum Teufel, weshalb mischen Sie sich da wieder zwischen mich und meinen Hund?« rief er wütend.

»Hab ich e Ahnung gehabt, lieber Freund, davon? Ich hab' doch gar kei Ahnung gehabt,« entschuldigte sich Fagin.

»So? Haben keine Ahnung gehabt, Sie Gauner?« knurrte Sikes. »Haben wohl den Krawall nicht gehört?«

»Nicht e Ton, Bill, so wahr ich leb,« entgegnete der Jude.

»Ach was, Sie hören nie was; natürlich nicht,« schimpfte Sikes grimmig. »Sie schleichen doch ein und aus, daß kein Teufel Sie hören kann. Ich wollte, Sie wären der Hund gewesen noch vor einer halben Minute.«

»Worum?« fragte der Jude mit krankhaftem Lächeln.

»Weil's jedermann frei steht, mit seinem Köter zu verfahren, wie er mag,« brummte Sikes und klappte sein Messer zusammen. »Deshalb.«

Der Jude rieb sich die Hände, setzte sich an den Tisch und tat, als ob ihn der Witz seines Freundes außerordentlich erheitere. In Wirklichkeit aber war ihm recht jämmerlich zumute, was man ihm deutlich ansehen konnte.[106]

»Ja ja, grinsen Sie nur,« rief Sikes, warf den Schürhaken wieder vor den Ofen und maß den Juden von oben bis unten mit Wut und Hohn. »Grinsen Sie nur; ich werd schon noch mal deine Kehle in der Hand haben, Fagin. Und hol mich der Teufel, dann laß ich nicht so bald aus. Wenn ich mal dran glauben sollte, dann mußt du's auch. Nimm dich in acht vor mir.«

»Scho gut, scho gut,« eiferte der Jude, »ich weiß doch, wir haben e gemeinsames Interesse, Billeben. Hand darauf, Billeben, wir gehen Hand in Hand.«

Sikes pfiff zwischen den Zähnen. »Und nun, was haben Sie mir zu sagen?«

»Alles wird doch geworfen in einen Topp,« erklärte Fagin, »hier ist Ihr Anteil. Es is weit mehr, als es sollte sein, lieber Freind, weil ich aber weiß, daß Sie mir auch gut wollen, drück ich ä Aug zu.«

»Hol Sie der Teufel mit Ihrem Gemauschel,« fiel ihm der Strolch ungeduldig ins Wort, »wo ist es? Raus damit!«

»Aber ja doch, Bill, ja doch, Billeben, so lasse Se mer doch Zeit,« schmeichelte der Jude. »Da is es doch schon!« Mit diesen Worten zog er ein altes Taschentuch aus der Brusttasche, knöpfte den Zipfel auf und brachte ein kleines Paket braunen Papiers zum Vorschein. Sikes riß es an sich, öffnete und zählte die darin befindlichen Goldstücke.

»Und das soll alles sein?« fragte er.

»Nu natirlich, was glauben Se?« antwortete der Jude.

»Sie haben's wahrscheinlich unterwegs aufgemacht und ein paar rausgemaust, was?« fragte Sikes argwöhnisch. »Machen Sie nur nicht so ein beleidigtes Gesicht, wenn ich frag; als ob Sie's nicht schon öfter gemacht hätten. Läuten Sie mal.« Fagin gehorchte, und auf der Stelle erschien ein zweiter Jude, zwar jünger als er, aber mindesten ebenso schmierig und widerwärtig.

Bill Sikes deutete auf den leeren Krug, der Jude verstand und ging damit hinaus, zuvor jedoch wechselte er einen seltsamen Blick mit Fagin, der ihn gespannt angesehen hatte, und schüttelte dann unauffällig den Kopf. Sikes, der sich gerade niedergebückt hatte, um[107] den Schnürriemen an seinem Schuh, den ihm sein Hund zerrissen hatte, zusammenzuknüpfen, bemerkte nichts von dem allem. Im Nu wäre ihm klar gewesen, hätte er es gesehen, daß die Zeichen der beiden Juden nichts Gutes für ihn bedeuteten.

»Jemand hier, Barney?« fragte Fagin und schlug die Augen nieder, da er bemerkte, daß Sikes ihn wieder ansah.

»Nischt ä Mänschenseele,« entgegnete Barney, und die Worte schienen ihm, wenn nicht aus dem Herzen, so doch aus der Nase zu kommen.

»Keine Menschenseele?« fragte Fagin erstaunt und in einem Ton, der offenbar Barney bedeuten sollte, er könne ruhig die Wahrheit sagen.

»Mei Ehrenwort, nicht ä Säle, bloß die Miß Nancy,« antwortete Barney.

»Nancy! Zum Teufel, Respekt muß man haben vor dem Frauenzimmer,« rief Sikes.

»Se hat sich ä bissele Rindfleisch lassen gäben drüben im Gastzimmer,« sagte Barney.

»Herein mit ihr,« befahl Sikes und schenkte sich ein Glas Schnaps ein.

Barney warf einen fragenden Blick auf Fagin, da dieser aber schwieg und nicht aufblickte, zog er sich zurück und kam gleich darauf wieder mit Nancy herein, die immer noch Hut und Schürze anhatte und immer noch den Korb und den Hausschlüssel in der Hand trug.

»Du bist ihm auf der Spur, was, Nancy?« forschte Sikes und schob ihr das Glas hin.

»Na natürlich,« erwiderte die junge Dame und leerte das Glas auf einen Zug, »aber verdammt müde bin ich. Der Lausebengel is krank jewesen und se haben ihn an die Strippe jebunden und –«

»Nancyleben, Kind!« jubelte Fagin und blickte auf.

Ob nun der Jude dadurch, daß er seine roten buschigen Augenbrauen zusammenzog und Miß Nancy einen raschen Blick zuwarf, sie warnen wollte oder nicht, jedenfalls unterbrach sie plötzlich ihren Bericht, sah Mr. Sikes lächelnd an und brachte das Gespräch geschickt auf ein anderes Thema. Nach ungefähr zehn Minuten wurde Mr. Fagin von einem Husten befallen,[108] und Nancy warf sich sofort, als ob das ein Zeichen wäre, ihr Tuch über die Schultern und sagte, sie müsse jetzt gehen. Aber auch Mr. Sikes schien den Gedanken zu haben, sie ein kurzes Stück begleiten zu wollen, denn er sprach seine Absicht dahin aus, und gleich darauf gingen sie zusammen fort, von dem Köter gefolgt, der kaum, daß er seinen Herrn erblickte, auf dem Hof herangeschlichen kam. Der Jude stand, als Sikes draußen war, auf, spähte ihm durch die Stubentür nach, ballte die Faust, murmelte einen dumpfen Fluch und setzte sich dann fürchterlich trinkend wieder an den Tisch und studierte eifrig die Rubrik für Steckbriefe in der Zeitung.

Inzwischen befand sich Oliver, nicht ahnend, in welcher Nähe sich der lustige alte Herr befand, auf dem Weg nach dem Bücherladen. In Clerkenwell angelangt, bog er in eine Nebengasse, die eigentlich nicht direkt hinführte; und als er seinen Irrtum gewahr wurde, hielt er es nicht mehr für der Mühe wert, umzukehren, sondern eilte vorläufig geradeaus, um dann wieder die Hauptrichtung einzuschlagen. Ganz vertieft in Gedanken, wie glücklich er sich jetzt fühlen müsse und wie schlecht es wohl dem armen kleinen Dick, seinem Freund, im Arbeitshaus gehen möge, schreckte er plötzlich durch einen gellenden Ruf auf, den ein Frauenzimmer in seiner Nähe ausstieß.

»O da is er ja, mein lieber kleener Bruder!«

Bis ins Innerste erschreckt, fuhr Oliver zusammen, und kaum blickte er auf, da schlangen sich auch schon ein paar Arme um seinen Hals und hemmten ihn in seinem Lauf.

»Lassen Sie mich los!« schrie Oliver, bemüht, sich loszureißen. »Lassen Sie mich los! Wer ist denn das? Weshalb halten Sie mich auf?«

Die einzige Antwort, die die junge Dame, die ihre Arme um seinen Hals geschlungen hatte, gab, bestand in einem zornigen Gezeter von Jammer- und Weherufen.

»Jott im Himmel, hab' ich dich endlich!« rief sie beständig, ihr Körbchen und den Hausschlüssel in der Hand. »Oliver, unjeratner Lausebengel; mir den Iram anzutun! Nu kommst de aber schleunigst mit. Hab' ich[109] dich endlich jefunden? Gott sei Dank, daß ik ihn jefunden habe!« Abermals brach die junge Dame in ein wildes Kreischen aus, sodaß ein paar Weiber, die gerade vorübergingen, einem Schlächterjungen mit gefettetem Haar zuriefen, er möge schleunigst einen Arzt holen.

»Ach nö, lassen Se doch,« wehrte die junge Dame ab und packte Oliver am Arm, »es is mir schon viel besser. Gleich kommst de mit heim, du Lausejunge.«

»Was ist denn los, Freileinchen?« fragte eine.

»Ach, Madame, vor vier Wochen is er seinen Eltern wegjelofen, fleißigen und betriebsamen Leiten, und hat sich mit Diebsjesindel und schlechter Jesellschaft einjelassen, und darüber is seiner Mutter beinah das Herz jebrochen.«

»Elender Lausbub,« schimpfte eine Frau.

»Marsch, nach Haus mit dir, ungeratner Bengel«, schalt die andre.

»Das ist doch alles nicht wahr,« rief Oliver in großer Angst, »ich kenne das Mädchen gar nicht. Ich habe gar keine Schwester und weder Vater noch Mutter. Ich bin eine Waise und wohne in Pentonville.«

»Hör mal einer so ne Frechheit!« rief die junge Dame.

»Aber Sie sind ja Nancy!« rief jetzt Oliver, der ihr zum erstenmal ins Gesicht sah und erstaunt zurückfuhr.

»Na, da sehen Se, daß er mir kennt,« rief Nancy, sich an die Umstehenden um Hilfe wendend. »Nu kann er sich nicht mehr ausreden. Ach, zwingt ihn doch mit mir zu gehen, zu seiner Mutter und seinem wackern Vater, sonst bringt er ihn noch unter die Erde, und mir bricht das Herz!«

»Was zum Teufel soll denn das heißen?« rief plötzlich ein Mann und kam aus einer Schenke heraus, von einem weißen Hund gefolgt. »Das ist doch der saubere Mosjö Oliver! Gleich kommst du mit heim zu deiner armen Mutter, du junger Schuft. Marschheim!«

»Hilfe, Hilfe, ich kenne die beiden doch gar nicht,« rief Oliver, sich aus Leibeskräften unter dem Griff sträubend und windend.

»Hilfe,« wiederholte Sikes, »jawohl, ich will dir helfen, Galgenstrick, was hast du hier für Bücher? Hast[110] sie wohl stibitzt? Was? Her damit!« Mit diesen Worten riß er ihm die Bücher unter dem Arm weg und versetzte ihm einen Schlag auf den Kopf.

»Bravo,« rief ein Zuschauer aus einem Fenster herunter, »das ist die einzige Art und Weise, den Bengel zu seinen fünf Sinnen zu verhelfen.«

»Gut so,« lobten die beiden Weiber.

»Ich werd' ihm schon helfen,« antwortete der Strolch, versetzte Oliver einen zweiten Hieb über den Kopf und packte ihn am Kragen. »Marsch, vorwärts mit dir. Herein, Hundsvieh. Gib acht auf ihn!«

Ganz schwach von der eben erst überstandenen Krankheit und ganz verdutzt durch die Plötzlichkeit des Angriffs und überdies erschreckt durch das grimmige Knurren des Köters und die Brutalität des Strolchs, ergab sich Oliver in sein Schicksal. Im nächsten Augenblick sah er sich in ein Labyrinth von engen und finstern Torwegen und Höfen geschleift und im Marschtempo vorwärtsgetrieben. Wohl rief er noch hie und da um Hilfe, aber es war niemand da, der darauf geachtet hätte.

Die Gaslampen flammten auf in den Straßen, und Mrs. Bedwin wartete voll Angst und Unruhe in der offenen Haustür. Schon zwanzigmal war das Dienstmädchen die Straße hinaufgelaufen, um zu sehen, ob denn Oliver noch immer nicht komme. Beharrlich saßen die beiden alten Herren in der dunkeln Stube, die Uhr zwischen sich auf dem Tisch, und warteten und warteten.

Quelle:
Dickens, Charles: Oliver Twist. München 1914, S. 105-111.
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