Fünfundzwanzigstes Kapitel

[179] Handelt abermals von Mr. Fagin und Konsorten.


Mr. Fagin kauerte brütend an dem rauchigen Feuer in der alten Höhle, aus der Oliver von Nancy weggeholt worden war. Auf den Knien hielt er einen Blasbalg, aber er handhabte ihn nicht – er war zu tief in Gedanken versunken – und hielt das Kinn auf seine Daumen gestützt, die Augen starr auf das rostige Gitter geheftet.

An einem Tisch hinter ihm saßen der Baldowerer, Master Charley Bates und Tom Chitling bei einer Partie Whist, bei der der Baldowerer gegen Master Bates und Mr. Chitling spielte. »Zwei Spiele doppelt und den ›Rubber‹,« murrte Mr. Chitling mit langem Gesicht und langte eine halbe Krone aus der Westentasche. »Gegen dich kann man rein nicht aufkommen, und wenn man noch so gute Karten hat.«

»Schad, daß Sie nicht zugesehen haben, Fagin,« jubelte Charley, »Tommy Chitling hat nicht einen einzigen[179] Point g'habt, und ich hab mit ihm zusammen gegen den Baldowerer und den Strohmann g'spielt.«

»Ja ja, mein Jüngel,« erwiderte der Jude, »da mußt de freilich frieher aufstehen, wenn de willst gewinnen gegen den!«

»Nicht nur früher aufstehen,« knurrte Charley Bates, »die ganze Nacht über mußt de die Stiebel anbehalten und in jedem Auge 'n Brennglas und davor noch 'n Operngucker, wenn de gegen den aufkommen willst.«

Mr. Dawkins nahm das Kompliment mit philosophischer Ruhe entgegen und forderte die Herren der Gesellschaft auf, mit ihm einen Shilling zu wetten, daß er jedesmal eine beliebige Karte aus dem Talon ziehen werde. Da niemand seine Aufforderung annahm und der junge Gentleman mittlerweile seine Pfeife ausgeraucht hatte, ging er daran, mit einem Stück Kreide den Grundriß des Newgater Gefängnisses auf den Tisch zu zeichnen. Dazwischen pfiff er schrill zwischen den Zähnen.

»Verdammt langweilig bist du, Tommy,« sagte er nach längerem Schweigen und hielt mit dem Zeichnen inne, »was glauben Sie wohl, Fagin, woran er denkt?«

»Gott über die Welt, wie soll ich das wissen, mei Jung,« erwiderte Fagin über die Schulter und fing an den Blasebalg zu handhaben. »Meglich: über sei Pech, meglich auch: über den angenehmen Aufenthalt auf dem Land, den er jetzt hinter sich hat. Hahaha, hab jach recht geraten?«

»Falsch,« erklärte der Baldowerer und nahm Mr. Chitling damit das Wort aus dem Mund. »Was meinst du, Charley?«

»Nun – hem – ich glaube,« erwiderte Master Bates und zog grinsend den Mund von einem Ohr zum andern, »er hat gar so charmiert mit der Betsey. Siehst de, wie er rot wird! Ja ja, meine Augen! Na, das wird 'n feiner Jux. Tommy Chitling ist verliebt! Herrgott, ist das ein Jux, Fagin!«

Und außer sich vor Fröhlichkeit warf sich Master Bates in seinem Stuhl zurück, daß er das Gleichgewicht verlor und nach hinten auf den Boden fiel, was ihn aber nicht störte, weiter aus vollem Hals zu lachen.[180] Dann nahm er seine frühere Stellung im Sessel wieder ein und platzte abermals los.

»Nu, was is da weiter,« sagte der Jude, blinzelte Mr. Dawkins zu und versetzte Master Bates einen verweisenden Schlag mit dem Blasebalg. »Betsey ist ä feines Mädel; mach dich immer ran an sie, Tom; was ist da weiter?«

»Was da weiter ist, Fagin?« grollte Mr. Chitling und wurde blutrot dabei im Gesicht. »Das geht, dächte ich, hier keinen Menschen was an.«

»Auch recht, gewiß, niemand gehts was an,« sagte der Jude. »Laß Charley reden, was er mag; mach dir nix draus, mei Jung, mach dir nix draus. Die Betsey is ä feines Mädel, laß dir nur immer von ihr raten und du wirst machen dei Glick.«

»Das tu ich jetzt schon,« erwiderte Mr. Chitling; »aber hätt sie mir nicht geraten, hätt man mich nicht ins Loch gesteckt. Aber Sie, Fagin, haben doch immer noch einen Rebach dabei gemacht. Was, Fagin? Und was liegt schließlich an den sechs Wochen! Einmal muß doch jeder dran glauben, und warum da nicht am liebsten, wenn es grad Winter ist. Was, Fagin?«

»Nu natürlich, mei Jung,« antwortete der Jude.

»Du gingst am liebsten gleich nochmal ins Gefängnis zurück, was, Tom?« fragte der Baldowerer, Charley Bates und Fagin schlau zublinzelnd. »Wenn nur alles mit Betsey schon in Ordnung wär, was?«

»Gewiß ja, warum auch nicht,« murrte Tom verdrießlich. »So, jetzt wißt Ihrs, und ich hätt auch sofort freikommen können, wenn ich nur ein Wort ausgeplaudert hätt, was Fagin?« fuhr der halbblödsinnige Bursche immer ärgerlicher werdend fort. »Ein einziges Wort von mir hätt genügt, und ich wär draußen gewesen, was, Fagin?«

»Natürlich hätt genügt e einziges Wort, mei Jung,« erwiderte der Jude.

»Aber ich hab geschwiegen, was, Fagin, hab ich nicht geschwiegen?« fragte Tom hitzig.

»Natürlich, natürlich,« besänftigte ihn Fagin, »e ganzer Mann bist du gewesen.«

»Nun also,« rief Tom, »was gibts da weiter zu lachen?«[181]

Da Fagin sah, daß Mr. Chitling ganz außer sich vor Aufregung war, beeilte er sich, ihm zu versichern, es falle niemand im entferntesten ein zu lachen, und zum Beweise, wie ehrenhaft die ganze Gesellschaft sei, rief er Master Bates, den Urheber des ganzen Spaßes, selbst zum Zeugen an. Als aber Charley den Mund nur öffnete und gerade beteuern wollte, niemals in seinem ganzen Leben sei er ernsthafter gewesen als gerade jetzt, brach er sofort wieder in ein schallendes Gelächter aus. Wütend stürzte sich Mr. Chitling auf ihn und holte zu einem Schlage aus. Bates aber, geschickt wie er war, duckte sich rechtzeitig, so daß der Schlag den menschenfreundlichen alten Herrn mitten auf die Brust traf. Von der Wucht des Schlages taumelte Fagin bis an die Wand und blieb da ächzend und nach Atem ringend stehen, während Mr. Chitling sprachlos vor Entsetzen ihn anstarrte.

»Obacht!« rief der Baldowerer in diesem Augenblick. »Die Glocke!« Er griff nach dem Leuchter und schlich leise die Treppe hinauf. Es läutete zum zweitenmal. Diesmal etwas heftiger, und nach einer kurzen Pause erschien der Baldowerer wieder in dem dunkeln Zimmer und flüsterte Fagin ein paar Worte ins Ohr.

»Was!« schrie der Jude. »Allein?«

Der Baldowerer nickte, beschattete die Kerze mit der Hand und gab Charley Bates einen heimlichen Wink, es sei jetzt ratsam, jede Ausgelassenheit beiseite zu lassen. Inzwischen nagte der Jude nervös an seinen Nägeln und dachte eine Weile nach. Endlich erhob er den Kopf, und seine Miene verriet, daß er Unheil wittere.

»Wo is er?« fragte er.

Der Baldowerer deutete nach oben und fragte mit einer Gebärde, ob er hinaufgehen solle.

»Ja,« sagte der Jude, »bring ihn erunter. Pscht, ruhig jetzt, Charley, auch du ruhig, Tom.«

Lautlos gehorchten die beiden Gegner. Gleich darauf kam der Baldowerer mit der Kerze in der Hand die Treppe herunter, und hinter ihm schritt ein Mann in grobem Kittel herein, warf einen hastigen Blick in die Ecken, riß sich dann das Halstuch, das den untern Teil[182] seines Gesichtes gänzlich verbarg, ab und stand mit hohlen eingefallenen Wangen ungewaschen und unrasiert als der schmucke Toby Crackit da.

»Nu, was is, Fagin?« fragte der Gentleman und nickte dem alten Juden zu. »Leg das Tuch derweil in mein Hut nein, Baldowerer, damit ichs gleich find, wann ich wieder weggeh. So ists recht! Wirst mal en feines Werkzeug sein für den alten Chochemer.« Dann zog sich der Mann einen Stuhl an den Kamin und stemmte die Füße gegen den Rost.

»Da, schau mal her, Fagin,« sagte er und deutete betrübt auf seine Stulpstiefel, »seit Menschengedenken ist nicht ein Tropfen Wichse darauf gekommen. Na, friß mich nur nicht gleich auf mit den Augen, – alles, wenns dazu Zeit ist, – ich red nicht eher vom Geschäft, bevor ich nicht etwas zum Fressen und Saufen bekommen hab. Also raus mit dem Futter, ich bin hungrig zum krepieren.«

Der Jude winkte dem Baldowerer, was an Vorräten vorhanden war auf den Tisch zu stellen. Dann setzte er sich dem Einbrecher gegenüber und wartete, bis es diesem angenehm sein würde herauszurücken.

Toby schien es damit nicht sehr eilig zu haben. Anfangs zügelte der Jude, so gut er konnte, seine Ungeduld und trachtete aus den Zügen des Einbrechers zu lesen, was es wohl Neues geben möchte. Aber Crackit sah müde und abgespannt drein, und sein Gesicht war so verschlossen wie immer. Nur hie und da schmunzelte er befriedigt.

Jeden Bissen, den Toby hinunterschlang, verwünschte der Jude in seiner Aufregung, aber es half alles nichts. Mit größter Gleichgültigkeit fuhr Toby fort zu essen, bis nichts mehr da war. Dann schickte er den Baldowerer hinaus, schloß die Türe hinter ihm, mischte sich ein Glas Brandy mit Wasser und setzte sich dann bequem in einen Sessel.

»Nun zuvörderst einmal, Fagin, –« begann er.

»Ja doch, ja doch,« unterbrach ihn Fagin ungeduldig. »Also was is eigentlich?«

Mr. Crackit tat langsam und bedächtig einen Zug aus seinem Krug, stemmte die Füße wieder gegen den niedrigen Kaminsims und fing voll Seelenruhe an:[183]

»Also zuvörderst einmal, Fagin, – ja richtig: was ich sagen wollte, was macht Bill?«

»Bill?« fuhr der Jude auf.

»Zum Teufel! Das soll doch nicht vielleicht heißen – –,« stieß Toby Crackit hervor und wurde totenblaß.

»Nu natürlich! Hier ist er nicht!« schrie der Jude und stampfte ingrimmig auf den Boden. »Also, wo stecken sie? Wo sind Sikes und der Junge? Wo haben sie sich versteckt? Warum sind sie nicht gewesen hier?«

»Der Einbruch ist daneben gegangen,« murmelte Toby.

»Das weiß ich doch,« rief Fagin, zog eine Zeitung aus der Tasche und deutete darauf. »Also was weiter?«

»Die Kerle drin haben geschossen und den Jungen getroffen. Eine Zeitlang haben wir ihn über die Felder mit uns geschleppt, durch dick und dünn, über Hecken und Gräben, und immer war die ganze Bande hinter uns her. Die ganze Grafschaft war auf den Beinen und die Hunde auch.«

»Und der Junge? Und der Junge?«

»Bill Sikes hat ihn auf den Rücken genommen und ist gelaufen wie der hellichte Satan. Dann haben wir ihn zwischen uns genommen, und kalt ist er gewesen, kalt wie ein Toter. Und die Bande rückte immer näher und näher. Da hats gegolten, das eigene Fell zu retten. Dann haben wir uns getrennt und den Buben halt im Graben liegen lassen. Lebend oder tot, was weiß ich.«

Der Jude stieß einen gellenden Schrei aus, raufte sich verzweifelt das Haar und stürzte aus der Stube und aus dem Hause.[184]

Quelle:
Dickens, Charles: Oliver Twist. München 1914, S. 179-185.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Naubert, Benedikte

Die Amtmannin von Hohenweiler

Die Amtmannin von Hohenweiler

Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.

270 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon