Die Altäre

[34] Am andern Abend gab Mirzoza ein kleines Nachtmahl. Die Gäste versammelten sich zeitig in ihrem Gemach. Man war gern bei ihr, bevor sich das Schreckenszeichen des vorherigen Abends ereignete, für heute fand man sich ein, weil man es nicht ändern konnte. Alle Damen sahen verlegen aus und sprachen nichts als einzelne Worte. Sie saßen auf der Lauer und erwarteten jeden Augenblick, es werde sich irgendein Kleinod ins Gespräch mischen. Allen wässerte der Mund, Alcinens Unglück aufs Tapet zu bringen, aber keine wagte davon anzufangen. Nicht als ob ihre Gegenwart jemanden zurückgehalten hätte; denn sie blieb aus, obwohl eingeladen. Man vermutete, daß sie Kopfschmerzen habe. Endlich aber, sei es, daß man vielleicht die Gefahr weniger fürchtete, weil man den ganzen Tag hindurch nur Mäuler hatte reden hören, oder daß man sich nur dreist stellte: Das Gespräch, das einzuschlafen drohte, belebte sich auf einmal,[35] sehr verdächtige Frauenzimmer bekamen wieder Haltung und Sicherheit, und Mirzoza fragte den Hofmann Zegris, ob es nichts Neues gebe: »Gnädige Frau,« antwortete Zegris, »die Vermählung des Aga Chazur mit der jungen Siberine, wovon man Ihnen Mitteilung gemacht hatte, ist rückgängig gemacht worden.« »Warum?« fragte die Favorite. – »Chazur will eine sonderbare Stimme am Nachttisch seiner Dame vernommen haben. Seit gestern wimmelt der Hof von Leuten, die die Ohren spitzen, um, ich weiß nicht was für Geständnisse zu erhaschen, die man gar keine Lust hat ihnen mitzuteilen.«

»Das ist ja toll,« sagte die Favorite. »Alcinens Unglück, wenn es überhaupt eins ist, ist noch gar nicht erwiesen. Noch hat man nicht ergründet ...«

»Gnädige Frau,« unterbrach sie Zelmaide, »ich habe Wort für Wort verstanden. Sie sprach, ohne den Mund aufzutun. Ihre Reden waren sehr deutlich. Auch ließ sich leicht erraten, woher diese befremdliche Stimme kam. Ich gestehe[36] Ihnen, widerführe mir dergleichen, ich wäre auf der Stelle tot.«

»Tot?« versetzte Zegris. »Man überlebt wohl ärgere Dinge.« »Ärgere?« rief Zelmaide. »Was kann ärger sein, als wenn ein Kleinod zu schwatzen anfängt? Alsdann ist kein andrer Rat. Man darf entweder keinen Liebhaber mehr haben, oder man muß sich gefallen lassen, daß die ganze Welt diesen Liebhaber kennt.«

»Die Wahl ist wirklich traurig,« sprach Mirzoza. »Nein, gnädige Frau,« versetzte eine andre, »nicht so traurig, daß man sich endlich nicht darein finden könnte. Man läßt die Kleinode schwatzen soviel sie wollen, und geht seinen Weg fort, ohne das Gerede zu achten. Ob nun das Kleinod einer Dame plaudert oder ihr Liebhaber, was liegt daran? Weiß man deswegen weniger, was man weiß?«

»Sie haben recht,« sagte eine dritte. »Ich glaube sogar, wenn eins von beiden sein muß, so ist es besser, daß die Welt die Heimlichkeiten einer Dame durch ihr Kleinod erfahre, als durch ihren Liebhaber.«[37] »Das ist ein sonderbarer Einfall,« sagte die Favorite. »Eine große Wahrheit,« erwiderte die, welche ihn gewagt hatte. »Bedenken Sie nur, in der Regel bricht der Liebhaber seine Verschwiegenheit, weil er mißvergnügt ist, und dann gerät er leicht in Versuchung, aus Rache zu übertreiben: aber ein Kleinod spricht ohne Leidenschaft und sagt nichts weiter als was wahr ist.«

»Ich meines Orts bin dieser Meinung nicht,« redete Zelmaide dazwischen. »Die Wichtigkeit der Aussagen schadet der Schuldigen weniger, als die Gültigkeit des Zeugnisses. Entehrt ein Liebhaber durch sein Geschwätz den Altar, auf welchem er opferte, so ist er eine Art Gotteslästerer, der keinen Glauben verdient: aber erhebt der Altar selbst seine Stimme, was kann man antworten?«

»Daß er nicht weiß, was er spricht,« versetzte die zweite. Monima hatte bisher nicht geredet, jetzt brach sie das Schweigen, und sagte nachlässig und mit gedehntem Ton: »meinetwegen mag mein Altar, wenn[38] er doch Altar heißen soll, reden oder schweigen; ich fürchte seine Worte nicht.«

Indem trat Mangogul herein und hörte Monimens letzte Worte. Er drehte seinen Ring gegen sie, und ihr Kleinod fing an zu schreien: »Glauben Sie ihr nicht, sie lügt!« Ihre Nachbarinnen sahn einander an und fragten sich, wem das Kleinod gehöre, welches geantwortet habe? »Mir nicht,« sagte Zelmaide; »mir auch nicht,« sprach eine andre; »mir auch nicht,« sagte Monima; »mir auch nicht,« sagte der Sultan. Alle Damen, die Favorite mit eingeschlossen, legten sich aufs Leugnen.

Der Sultan benutzte diese Ungewißheit und wandte sich zu den Damen. »Sie haben also Altäre?« fragt' er; »sind sie auch wohl geehrt?« Und indem er sprach, wandte er schnell hintereinander seinen Ring gegen alle Damen, Mirzoza ausgenommen. Jedes Kleinod antwortete, wie es die Reihe traf. Wie viel Stimmen untereinander! »Ich bin sehr besucht,« »ich gehe zugrunde,« »ich bin verlassen,« »ich bin müde,« »ich bin mit Weihrauch versehen,«[39] »ich bin schlecht bedient,« »ich bin gelangweilt« usw. Alle sprachen, aber so jäh, daß man ihnen nicht folgen konnte. Ihre Sprache, bald dumpf, bald kreischend; und von dem Gelächter Mangoguls und seiner Hofleute begleitet, verursachte ein ganz eigenartiges Geräusch. Die Damen sahen sehr ernsthaft drein, behaupteten aber, es wäre ungemein spaßhaft. »Allerdings,« sagte der Sultan, »es ist außerordentlich verbindlich von den Kleinoden, daß sie unsere Sprache reden und einen Teil der Kosten der Unterhaltung tragen wollen. Die Gesellschaft wird auf diese Weise verdoppelt und gewinnt unendlich dabei. Vielleicht reden wir Männer, bald auch nicht mehr bloß mit dem Munde. Wer weiß? Der Wardein dieser Kleinode ward vielleicht bestimmt, sie auszufragen und ihnen zu antworten. Mein Hofanatom ist freilich andrer Meinung.«

Quelle:
Denis Diderot: Die geschwätzigen Kleinode. München 1921, S. 34-40.
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