Mirzoza vom Erhabnen und Schönen

[297] Endlich vollendete Mangogul die akademische Rede der Schönsprecherin; es war spät, man begab sich zur Ruhe.

Diese Nacht konnte sich die Favorite einen tiefen Schlaf versprechen. Aber die Unterhaltung des vergangenen Abends kam ihr im Traum wieder in den Kopf, die Gedanken, die sie beschäftigt hatten, vermischten[297] sich mit andern, und es zeigte sich ihr ein seltsames Gesicht, so daß sie nicht unterließ, dem Sultan davon zu erzählen.

»Ich lag,« sprach sie zu ihm, »im ersten Schlummer, als ich mich in eine Galerie versetzt fühlte, die voll von Büchern war. Was sie enthielten, kann ich Ihnen nicht angeben; sie waren nun für mich, was sie für viele Leute sind, die nicht schlafen. Ich sah keinen Titel an: ein weit auffallenderes Schauspiel zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich.

Von Raum zu Raum zwischen den Schränken, die die Bücher enthielten, erhoben sich Fußgestelle mit schönen marmornen oder erzenen Büsten. Der Zahn der Zeit hatte ihrer geschont, mit Ausnahme einiger Schäden waren sie ganz und vollkommen. Sie trugen den Stempel eines edlen Geschmacks, wie ihn das Altertum seinen Werken zu geben wußte. Die meisten hatten lange Bärte, hohe Stirnen, wie die Ihrige und einen interessanten Gesichtsausdruck.

Ich war neugierig, ihre Namen zu erfahren[298] und ihre Verdienste kennenzulernen, als aus einem Erker ein Frauenzimmer hervortrat und mich anredete. Stolz war in ihrem Wuchs, Majestät in ihrem Schritt, Adel in ihrem Gange. Milde und Hoheit vereinigten sich in ihrem Blick, und in ihrer Stimme lag ein unnennbarer Zauber, der mir ins Herz drang. Ein Helm, ein Brustharnisch, ein flatternder Rock aus weißer Seide waren ihre ganze Kleidung.« »Ich kenne Eure Verlegenheit,« sprach sie, »und will Eure Neugierde befriedigen. Die Männer, deren Büsten Euch auffielen, waren meine Günstlinge. Sie haben ihre schlaflosen Nächte der Vollendung der schönen Künste geweiht, deren Erfindung man mir verdankt; sie bewohnten den gesittetsten Teil der Erde; ihre Schriften wurden das Vergnügen ihrer Zeitgenossen und sind noch die Bewunderung der Jetztzeit. Tretet näher und Ihr werdet in flacher Bildhauerarbeit an den Fußgestellen, die ihre Brustbilder tragen, einige interessante Vorwürfe bemerken, die Euch wenigstens den Charakter[299] ihrer Schriften sollen erkennen lassen.«

»Die erste Büste, die ich betrachtete, war ein majestätischer Greis, der mir blind zu sein schien. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er Schlachten gesungen, denn sie waren der Gegenstand der Seiten seines Fußgestells. Auf der Vorderfläche stand die einzelne Gestalt eines jungen Helden. Seine Hand faßte kühn nach dem Griff seines Schwerts, ein weiblicher Arm hielt ihn bei den Haaren zurück und schien seine Wut zu mäßigen.

Diesem gegenüber stand das Brustbild eines jungen Menschen, er war die Bescheidenheit selbst. Seine Blicke waren mit großer Aufmerksamkeit auf den Greis gerichtet. Auch er hatte Krieg und Schlachten gesungen, aber diese Dinge hatten ihn nicht allein beschäftigt; von den Bildhauerarbeiten, die ihn umgaben, stellten die wichtigsten auf einer Seite Ackersleute dar, über ihren Pflug gebeugt oder ihr Feld bauend, und auf der andern Hirten im Grase liegend und zwischen Schafen und[300] Hunden die Flöte blasend. Die Büste über dem Greis auf der nämlichen Seite zeigte einen verstörten Blick, sein Auge schien einen fliehenden Gegenstand zu verfolgen, und darunter hatte man eine fortgeworfene Leier abgebildet, zerstreute Lorbeerreiser, zertrümmerte Wagen, unbändige Rosse, die ihrem Führer entlaufen, sich in der weiten Ebene tummelten.

Diesem gegenüber stand ein Kopf, der mich ungemein interessierte, ich glaub' ihn noch zu sehen: er hatte ein feines Gesicht, eine starke Adlernase, einen festen Blick und ein spöttisches Lächeln. Die Bildhauerarbeiten, die sein Fußgestell schmückten, waren so überladen, daß ich gar nicht fertig würde, wenn ich sie Ihnen beschreiben wollte.

Noch untersucht' ich verschiedne andre Brustbilder und dann fragt' ich meine Führerin: ›Wer ist dieser hier, der die Wahrheit auf den Lippen und die Rechtschaffenheit im Antlitz trägt?‹ ›Er war,‹ sagte sie zu mir, ›der Wahrheit und der Rechtschaffenheit Freund und Opfer. Solange[301] er lebte, war er einzig bestrebt, seine Mitbürger gebildet und tugendhaft zu machen, und die undankbaren Mitglieder nahmen ihm das Leben.‹ ›Und diese Büste daneben?‹ – ›Welche?‹ – ›Die von den Grazien getragen scheint, die man auf das Untergestell gemeißelt hat?‹ – ›Ja die ...!‹ ›Die stellt den Schüler und Erben der Lehren des tugendhaften Unglücklichen dar, von dem ich Ihnen soeben sprach.‹

›Und jener dicke Pausbäckige da, den man mit Weinlaub und Myrten bekränzt hat, wer ist er?‹ – ›Das ist ein liebenswürdiger Philosoph, dessen einzige Beschäftigung es war, die Freude zu besingen und zu genießen. Er starb in den Armen der Wollust.‹

›Und der andere da, der Blinde?‹ ›Das ist,‹ sagte sie zu mir ... aber ich hörte ihre Antwort nicht mehr. Denn nun kam mir alles bekannt vor, was ich sah. Ich eilte zu dem Kopf, der jenem gegenüberstand. Er ruhte auf einer Trophäe mit den verschiedenen Attributen der Wissenschaften und der Künste: Liebesgötter balgten sich[302] miteinander auf einer Seite seines Untergestells. Auf der anderen hatte man die Genien der Politik, der Geschichte und der Philosophie gruppiert. Auf der dritten sah man zwei Heere in Schlachtordnung aufgestellt: Staunen und Schrecken herrschten auf den Gesichtern; auch Spuren von Bewunderung und Mitleid konnte man gewahren. Diese Gefühle entstanden offenbar aus den Schilderungen, die sich dem Auge darboten. Alles in diesen Gestalten war von höchster Schönheit, sowohl die Verzweiflung der einen als die Todesmüdigkeit, die alle Glieder der anderen befallen zu haben schien. Ich trat näher und las darunter in goldenen Buchstaben: ›Wehe! es war sein Sohn!‹

Auf einer andern Fläche war ein wütender Soldat gemeißelt, der einem jungen Mädchen angesichts einer großen Volksmenge den Dolch ins Herz stieß. Die einen wandten sich ab, die anderen weinten. Um das Bildwerk herum waren die Worte eingegraben: ›Seid Ihres N'rest an?‹

Ich wollte mich gerade zu anderen Büsten[303] wenden, als ein plötzliches Geräusch mich den Kopf drehen ließ. Es ward durch eine Menge schwarzbemäntelter Leute verursacht, die in die Galerie stürzten. Einige trugen Rauchfässer, aus denen ein dicker Dampf aufstieg, andre hatten Kränze von Kuhnelken und anderen wahllos gepflückten und geschmacklos gewundenen Blumen. Sie versammelten sich um die Brustbilder, beräucherten sie und sangen ihnen Gesänge in zwei mir unverständlichen Sprachen. Der Rauch ihrer Weihe hängte sich an die Büsten, denen die aufgesetzten Kränze ein lächerliches Aussehen gaben. Aber bald nahmen die Antiken ihren ursprünglichen Glanz wieder an, der Dampf verzog sich, und die Kränze lagen verwelkt und entblättert am Boden. Unter ihren barbarischen Anbetern entstand ein Zank, weil einige nach der Meinung andrer ihr Knie nicht tief genug gebeugt halten: und schon waren sie nahe daran, deswegen handgemein zu werden, als meine Führerin sie mit einem Blick zerstreute und den Frieden ihrer Wohnung wiederherstellte.[304]

Sie waren kaum verschwunden, als ich durch eine entgegengesetzte Tür eine lange Reihe von Pygmäen hereinkommen sah. Diese kleinen Menschen waren nicht zwei Spannen hoch, dagegen besaßen sie äußerst spitze Zähne und sehr lange Nägel. Sie teilten sich in verschiedene Rotten und bemächtigten sich der Brustbilder. Einige suchten die Bildwerke der Gestelle zu zerkratzen, und der Fußboden war mit den Trümmern ihrer Krallen bedeckt. Andre, unverschämter noch als jene, kletterten einer dem andern auf die Schulter, bis sie so hoch waren wie die Köpfe, denen sie Nasenstüber gaben. Aber was mich belustigte, war die Wahrnehmung, daß diese Nasenstüber, weit entfernt, die Nasen der Brustbilder zu erreichen, auf die Nasen der Zwerge zurückprallten. Auch fand ich bei näherem Anblick, daß sie fast alle stumpfnasig waren.

›Ihr seht,‹ sagte meine Führerin, ›worin die Frechheit und die Strafe dieser Myrmidonen besteht. Der Krieg dauert schon lange und immer zu ihrem Nachteil. Gegen[305] sie verfahr' ich weniger strenge, wie gegen die Schwarzröcke. Der Weihrauch der letzteren könnte die Brustbilder entstellen, die Bemühungen jener haben gemeiniglich den Erfolg, ihren Glanz nur zu mehren. Da Ihr aber ein oder zwei Stunden hier verweilen dürft, so rat ich Euch, weiter Umschau zu halten.‹

Sogleich öffnete sich ein großer Vorhang, und ich erblickte eine Werkstube mit einer andern Zwergenart angefüllt. Diese hatten weder Zähne noch Nägel, dagegen waren sie mit Rasiermessern und Scheren versehen. Sie hielten Köpfe, die Leben zu atmen schienen, in Händen und schnitten sehr eifrig dem einen die Haare weg, einem andern rissen sie Nase und Ohren ab, dem das rechte, jenem das linke Auge, kurz, sie verstümmelten alles. War diese saubere Operation vollbracht, so besahen sie, was sie gemacht hatten und lächelten dazu, als ob sie wunder etwas Schönes daraus gemacht hätten. Die armen Köpfe schrien zwar aus Leibeskräften, aber man würdigte sie keiner Antwort. Einen besonders[306] hört' ich seine Nase wieder fordern und behaupten, es sei ihm unmöglich, sich ohne dieses Glied sehen zu lassen. ›Herzallerliebstes Köpfchen,‹ antwortete der Pygmäe, ›du bist nicht gescheit. Wie kannst du nur deine Nase zurückwünschen? Sie entstellte dich ja. Sie war so lang, so lang! Mit der war kein Glück zu machen. Seit ich dich gestutzt und geschnitten habe, bist du allentzückend; die ganze Welt wird dir nachlaufen.‹

Das Schicksal dieser Köpfe rührte mich, als ich in der Ferne mitleidigere Zwerge entdeckte, die mit Brillen auf der Erde herumkrochen. Sie sammelten Nasen und Ohren auf und paßten sie einigen alten Köpfen an, denen die Zeit sie geraubt hatte. Einigen gelang das wohl, aber nur sehr wenigen: andre setzten die Nase an die Stelle des Ohrs oder das Ohr an die Stelle der Nase, und die Köpfe sahen nur noch häßlicher aus als vorher.

Ich war sehr neugierig, zu wissen, was alles dieses bedeutete: ich befragte meine Führerin darum, sie öffnete schon den[307] Mund, mir zu antworten, und plötzlich erwacht' ich.«

»Das ist grausam,« sagte Mangogul, »dieses Frauenzimmer hätte Ihnen sehr viele Geheimnisse offenbart. Da wir ihrer aber nicht habhaft werden können, so rat' ich Ihnen, sich an meinen Taschenspieler Bloculocus zu wenden.« »An wen? An den Pinsel,« sagte die Favorite, »dem Ihre Hoheit das ausschließende Vorrecht erteilt haben, Ihrem Hofe die Zauberlaterne zu zeigen?« »Gerade an den,« antwortete der Sultan, »er oder keiner kann Ihren Traum deuten. Bloculocus soll kommen,« sprach Mangogul.

Quelle:
Denis Diderot: Die geschwätzigen Kleinode. München 1921, S. 297-308.
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