17.

[107] Aber nein! Ich ziehe mit leisem Schritt

Vorbei der verfluchten Stätte.

Ich weckte ja sie zum Leiden mit,

Sie droben im Witwen-Bette.


Du armes, junges, süßes Weib,

Zum Schatten umgewandelt,

Seit du den blühenden, schönen Leib

An jenen Toten verhandelt!


Nun hast du dein beneidet' Glück,

Die Titel, die Mittel, die Größen,

Und gäbst es mit tausend Freuden zurück

Für deiner Armut Blößen;


Für eine Stunde freier Lust

An des verlassenen Buhlen Herzen,

Für ein Kindlein an deiner runden Brust,

Gezeugt und gesäugt in Schmerzen.


Mich friert es, denk' ich an ihren Schlaf,

An die roten Augenlider,

Die kaum ein schmerzliches Ruhen traf,

An die matt-hinwelkenden Glieder.
[107]

Ja, armes Weib, hätt' ich nun mein Horn,

Dir gäb' ich's mit lautem Ergetzen;

Solltest's dem alten Sünder vorn

An die schamlose Stirne setzen!

Quelle:
Franz von Dingelstedt: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters, Tübingen 1978, S. 107-108.
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