6.

[141] Des Tags, da Christus starb zu Gottes Ehre,

Kniet' ich an der Michälis-Kirche Schwelle,

Umbraust von stolzer Sang- und Orgel-Welle,

Still und zerknirscht: – »O Christe, Miserere!«


Am Hochaltar erlosch die Kerzenhelle

Langsam und mälig, bis die lautlos-schwere,

Die starre Nacht – »O Christe, Miserere!«

Rings auf den Betern lag und der Kapelle.


Und als ich so sie schwinden sah, die Lichter,

Eins nach dem andern von der Nacht verschlungen,

Schien mir's, als ob's ein Bild des Landes wäre:


Bald schied ein Denker, bald erstarb ein Dichter,

Still ward's und öd' und aus den Dämmerungen

Klang's schluchzend auf: – »O Christe, Miserere!«

Quelle:
Franz von Dingelstedt: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters, Tübingen 1978, S. 141-142.
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Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters (Deutsche Texte)