An ***

[119] O frage nicht was mich so tief bewegt,

Seh ich dein junges Blut so freudig wallen,

Warum, an deine klare Stirn gelegt,

Mir schwere Tropfen aus den Wimpern fallen.


Mich träumte einst, ich sei ein albern Kind,

Sich emsig mühend an des Tisches Borden;

Wie übermächtig die Vokabeln sind,

Die wieder Hieroglyphen mir geworden!
[119]

Und als ich dann erwacht, da weint' ich heiß,

Daß mir so klar und nüchtern jetzt zu Mute,

Daß ich so schrankenlos und überweis',

So ohne Furcht vor Schelten und vor Rute.


So, wenn ich schaue in dein Antlitz mild,

Wo tausend frische Lebenskeime walten,

Da ist es mir, als ob Natur mein Bild

Mir aus dem Zauberspiegel vorgehalten;


Und all mein Hoffen, meiner Seele Brand,

Und meiner Liebessonne dämmernd Scheinen,

Was noch entschwinden wird und was entschwand,

Das muß ich alles dann in dir beweinen.

Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 119-120.
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