Wir sein alle gebrechlich.

[291] Es ist kein mensch auff erden er hat einn gebrechen /vnnd Gott alleyn hat keinn mangel an jm. Kein mensch ist so böß vnd vnartig / er dienet etwan zů /vnd hat ein gůt stuck an jm / das mann nicht ehe gewar wirt / dann wenn er todt ist / Daher es auch kompt / daß mann spricht: Diser macht jhenen fromm.

Denn es begibt sich offt / daß wir meynen / es könne ein mensch nit ärger sein / dann der ist / damit wir vmbgehen / wann der hinweg kompt, kompt ein ander der vil ärger ist /[291] machet jhenen fromm / vnnd wir wolten / daß wir den vorigen wider hetten. Es stehet in der Centonouell vonn einer Aptissin / wie sie mit jrem Probst jres Closters gebůlet hab. Nun hat die Custorin solches gemerckt / vnd allweg so offt der Probst bei der Abtissin gewesen ist / hat sie den Closterschreiber zu jr eingelassen. Auff ein zeit ward die Custorin / die es nicht so heymlich halten kondt / begriffen / vnd von den andern Nonnen für die Aptissin gefüret. Dieweil aber die Aptissin eilendts můst vom Probst auffstehen / ergreiffet sie des Probsts niderwadt für jr weihl / henckt es vff jr haupt. Die Nonnen erschrecken da sie das sehen / Die Custorin aber da sie härtiglichen von der Aptissin gestrafft ward / als ein böse hůr / die mann billich solt inn kercker setzen / spricht: Wirdige fraw Domina / die zippel stehn euch auch nicht sehr wol an. Vnnd da die Domina darnach greifft / findet sie / daß sie sich mit des Probsts niderwadt geschmuckt hatt / bekennet jr schulde / vnnd spricht: Ach lieben kindlin / wir seind alle gebrechlich.

Quelle:
Egenolff, Christian: Sprichwörter / Schöne / Weise Klugredenn. Darinnen Teutscher vnd anderer Spraach-en Höfflichkeit [...] In Etliche Tausent zusamen bracht, Frankfurt/Main 1552. [Nachdruck Berlin 1968], S. 291-292.
Lizenz:
Kategorien: