I. Brief

Amalie an Fanny

[9] Beßte theuerste Freundin!


Wenn Du jenes gutherzige Mädchen bist, so öffne deinen Busen meinem Kummer. Seit einer Stunde! – Gott im Himmel! – Seit einer Stunde ist meine Mutter todt! – Diese theure, für mich so gütige Freundin ist nicht mehr! – O, fühle, wenn Du kannst, die Last dieses Schmerzens! Aber Du kannst unmöglich das mit mir fühlen, denn Du verlorst keine Mutter, keine Führerin, keine Beschüzzerin, wie ich! O Mutter! Mutter! Könnten Dich meine Thränen zurükrufen! Könntest Du sehen, wie dieser Verlust in mir tobt; wie er mir hineingreift in das Innerste meiner Seele; wie es mich drückt, dieses Andenken; wie es mich ängstigt; meine Leiden spannen sich auf den höchsten Grad der schwarzen Schwermuth! – O Fanny! Sage mir doch nie wieder, daß Enthusiasmus die Menschen glüklich mache! Matt und ohne Thränen überdenke ich meine Lage, finde nirgends Trost, und außer deinem Busen scheint mir alles hart und unbarmherzig! Die Menschen sagen immer, Luft müße man sich machen und seinen Brokken Elend wegseufzen. – Gut wäre dies – für mich besonders[9] gut! Aber sind doch die meisten Menschen zum wahren Antheil so ungeschikt, so hölzern! – Doch Du, meine Freundin, bist keine von diesen, Du bist nicht von der Alltagsgattung, dein Gefühl ist fein genug, um mich zu verstehen. O! ich erinnere mich noch recht gut, wie sich deine Thränen mit den meinigen mischten. Und wenn ich dann gleichwohl diese Thränen unter stärkern Herzensstößen herausweinte, so war mein Weinen doch nicht so bitter, weil Du mitweintest. Wahrhaftig es rollt diesen Augenblik etwas feuchtes aufs Papier! – o, Gott sey Dank, es ist eine Thräne! Jezt kommen sie, diese Erleichterungen meines schweren Herzens; ich will sie zu tausenden wegschluchzen, und dann sez ich meinen Brief weiter fort. – Um etwas ist es mir jezt leichter, doch freilich ist dieses Etwas nur wenig. Glaube mir, Fanny! auch bei kälterem Blute scheint mir der Verlust meiner Mutter gräßlich! Alles erinnert mich augenbliklich daran. Die Leere in unsern Zimmern, der Mangel meiner Mutter in allen Anlässen, ihre müßigen Kleidungsstükke! – Gott! Gott! ich habe sie verloren, sie kömmt nicht wieder, meine innigstgeliebte Mutter! Bis izt war ihr Tod für mich blos ein halbwahrer, dumpfer Gedanke, mein Gehirn war zu heiß, um seiner Ursache nachzudenken; aber jezt, liebe Mutter, erinnere ich mich, daß Unglük und Misvergnügen deine Mörder waren! Die Blüte deiner Jahre ist doch ein zu theurer Preis! – Nicht wahr, Fanny, Du kennst die Güte meines Vaters? Wehe uns armen Kindern, wenn sein verheiratheter Bruder fortfährt, auf den Sturz unsers Hauses anzutragen! Er ist ein verschwenderischer Heuchler, und mein Vater ist zu gut und zu leichtgläubig. Welch eine gefährliche Gabe ist doch ein gutes Herz! Wie oft muß es sich tretten lassen, und wie wenig bindet es sich an Erfahrung! Selten entwischt ein zu gutes Herz der Gefahr betrogen zu werden, und wenn es ihr entwischt, so[10] wirkt eigner Unwille kontrastmäßig auf seinen Hang zur verschwenderischen Gutheit; immer wird so ein Herz von Bösewichtern umgeben und bezaubert, und ehe sich der Betrug sonnenklar entwikkelt, bleibt solch ein Herz gewis hartnäkkig gut. Lebe wohl, gutes, liebes Mädchen, und bedaure deine arme


Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 9-11.
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