VI. Brief

An Amalie

[17] Lose Freundin, schon wieder kein Mittelweg! Wie reimen sich wohl deine leztern Briefe mit den übrigen? – Meine Lage ist anders, also auch andere Briefe: wirst Du sagen. Ja ja! Aber lauter, lauter Extreme in allen Sachen. Doch um deine Briefe zu beantworten: Dein Vater hat also seinen Wohnort geändert? Nu, das mag gut gehen, nur wünscht ich, daß er recht weit wegzöge! Doch was nüzt mein Wunsch? Es wird doch gehen, wie es gehen muß, und wir Menschen wissen meistens zum Voraus, daß wir für Nichts wünschen, und doch wünschen wir. Er mag schon Recht haben, daß in Dir zu viel Feur braust. Mädchen, Mädchen! sieh zu und mach es mir nach, sonst wirst Du bald stürmischer, als ein junger Bursche; und Du weißt, wie gram die meisten Geschöpfe bei unsrer Zeit einer Amazonin sind. – Kleine Närrin! wie kömmst Du auf den Einfall: ich möchte ein Junge seyn! Glaubst Du wohl, daß die Männer so gar vielen Vorzug vor uns haben? Du hast Recht, sie können freier handeln als wir, aber im Gegentheil sezzen sie sich auch mehreren Zufällen aus. Ihr Leben[17] steht bei ihnen beständig auf der Waagschale; ein Streit, ein Krieg – und weg ist es. Es ist nun einmal so eingeführt, daß wir auf dieser Weltbühne als zerschiedene Geschöpfe agiren müßen. Kann es wohl anders seyn? Man legt uns Zwang an; aber es giebt würdige Weiber, für die kein Zwang bestimmt ist; Zwang ist nur für armselige, blöde, widerspenstige Weiber, die sich an Kleinigkeiten binden und große Pflichten verabsäumen, weil sie in allen Stükken aus Dummheit maschinenmäßig nachhandeln müßen. Ein ungebildetes Weib ist das schlimmste Geschöpf auf Erden; ein Ding, daß der Menschheit zur Last herumwandelt; ein Geschöpf voll Eigensinn und Hochmuth; eine Kreatur, die alles, was um sie ist, fast zu Tode martert. Wenn ein Weib boshaft ist, so ist sie es in einem Grade, wozu kein Mann gelangen kann. Siehst Du, Freundin, so ist unser Geschlecht bestellt. Glaubst Du also wohl, daß solche Geschöpfe keinen Zwang nöthig haben? Was würde wohl aus einer menschlichen Gesellschaft werden, wenn man einen solchen Haufen (denn auszeichnen thun sich nicht viele) wenn man sie nach ihrer blöden Einsicht und ihrer Dummheit angemeßen handeln ließe? – Meine Amalie! es ist so schon recht! bleib du immer ein Mädchen, kannst dessentwegen doch männlich denken! Lebe wohl und schlafe wohl!


Fanny.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 17-18.
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