XV. Brief

An Fanny

[31] Ich schrieb Dir lange nicht, Beßte, und würde es jezt noch nicht thun, wenn Du nicht ein so gutes Geschöpf wärest. Es muß Dir ja über meinen Ton ekkeln; doch nur mein Schiksal und deine Güte sind Anlas zu meinen Klagen. Ich könnte es nicht allein ertragen, wenn ich es auch nicht mittheilen dürfte. Oft weine ich so in einem Winkel und umfasse eine Säule oder einen Fensterstok und bilde mir ein, er nehme Antheil an meinen Leiden. Könnten wir uns nicht mittheilen, wir wären weit unglüklicher; das ist so etwas, worinn wir fühlen, wie gut unser Schöpfer ist. Stelle Dir nur vor, liebe Freundin, ein neuer Mischmasch von Unordnungen nimmt jeden Tag in unserm Hause seinen Anfang, und endet nicht eher, bis diese Kreaturen sich genug herumgebalgt haben. Ihre Spötteleien, ihre Bosheiten, ihre Tollheiten sind mir unerträglich, sind Sachen, worüber ich den Verstand verlieren möchte. Selbst mein Vater, ihr Wohlthäter, dient öfters zum Gegenstand ihrer Ungezogenheit; kurz, wo ich nur immer hinsehe, sehe ich nichts, als garstige, unflätige Herzen, Kinder, die im Zorne Gottes müßen geschaffen seyn; wie schröklich bange ist mir für meine arme Schwester! Gott im Himmel! was könnte wohl aus einem so zarten Kinde bei einem solchen Beispiele werden? Das Mädchen muß um sie seyn, ich kann es nicht ändern. O könnte ich das, Fanny, könnte ich das! heute noch würde ich sie mir alle vom Halse schaffen; aber Du weißt es, Freundin, ich kann es nicht, gar nicht, denn mein Vater verbot mir die geringste Anmerkung über diesen Punkt und drohete mir dabei so fürchterlich, daß ich es nun nicht mehr wage, meine Thränen an seinem Busen zu verweinen. Auch dieser Trost ist für mich nicht[31] mehr; ich zittre jezt mehr als je vor seinen Blikken und verberge meinen Kummer, der so tief in meiner Seele herumschleicht. Glaube mir, Freundin, jezt schon fangen wir alle an die Folgen einer solchen Last zu fühlen, denn es geht so abgekürzt in unsrer Oekonomie zu, als ob sie schon an Mangel gränzte. Mein Vater sucht es zu verbergen, aber für mich nüzzen solche Kunstgriffe nichts; denn ich allein, vor allen Andern, überrechne unsre Ausgaben, und jammere gewis nicht um des blosen Schattens willen. Könnte mein Gram uns retten, so hättest Du, meine Liebe, heute gewis den lezten Abriß unsers Elends. Lebe wohl! Denke doch an deine


Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 31-32.
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