XVIII. Brief

An Amalie

[34] Nicht wahr, meine Beßte, meine Kleinmuth, die Du in meinem lezten Briefe magst bemerkt haben, war Ursache, daß Du mir so lange nicht schriebst? – Vergieb mir, ich bitte Dich! – Es war Liebe zu Dir, die mir auf einmal das Herz brach und mich zur armseligsten Philosophin machte. Es giebt gewiße Augenblikke wo man fühlt, daß[34] man Mensch ist, und keine Moral ist in einem solchen Zeitpunkte kräftig genug, unserm Kummer Schranken zu sezzen. Du hieltest mich immer für flegmatisch; aber nicht Flegma war es, sondern eine Art von Philosophie, die ich mir frühe schon eigen machte, um etwas ruhiger die Leiden der Menschheit zu durchwandern. – Doch auch im Auge eines Philosophen steht eine mitleidige Thräne reizend. – Und nun, meine Liebe, bist Du also in deinem Vaterland? – Fürwahr deine Reise war ziemlich mönchenmäßig. – Nicht wahr, Freundin, wie künstlich das Schiksal uns auch an Unbequemlichkeiten zu gewöhnen weis? Hätte Dich deine Mutter in der Erziehung verzärtelt, so würdest Du nicht mit solchem Muth eine Reise vollendet haben, die Dir Ehre macht. Man kann vieles Elend ertragen, wenn es nur nicht durch Lästerzungen verbittert wird. – Einem Menschen von guter Geburt und Erziehung ist die Erniedrigung mehr Qual, als dem Bettler, weil er nie was anders als Bettler war und noch ist. – Aber was, meine Theuerste, was sagst Du? – Deine Base ist auf Dich eifersüchtig? Mein Gott! – Welcher Unsinn! – Ein Mädchen, die nicht die geringste Spur von Ausschweifung an sich blikken läßt; wie kann man die mit Argwohn kränken? – Uebrigens, meine Liebe, hast Du Ueberlegung genug, die Gefälligkeiten deines Vetters zu untersuchen, findest Du sie anstößig, so giebts ja Mittel und Wege, seinen Lüsten zu entgehen. Jedes Mädchen muß so viel Vernunft besizzen, um den Männern Ehrfurcht einzuflößen; wollen sie nicht nachgeben, je nun, so straft man ihre Verwegenheit durch eine tüchtige Satire! – Die Männer sind nun einmal zum Angriffe bestimmt und gewöhnt, und oft kömmt es auf uns Mädchen an, sie durch Delikatesse zu gewinnen. – Giebt ein solcher stürmischer Ritter nicht nach; dann verdient er weiter nichts als einen troknen Verweis. – Das,[35] liebe Freundin, ist mein angenommenes Sistem und meine unmaßgebliche Meinung in Ansehung der Herren Männer. Und ich denke immer, die Angriffe von Seiten der Männer würden seltener seyn, wenn die meisten Mädchen mehr Denkkraft über diesen Punkt im Kopfe trügen. – Nun noch eins, meine Traute; ich bin recht zufrieden über den guten Fortgang deiner Geschäfte; gieb mir bald nähere Nachrichten von ihrem Ausgang und sey indessen der Redlichkeit deiner Fanny gewis.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 34-36.
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