XX. Brief

An Amalie

[38] Vortrefliches Mädchen! – Du räsonnirst ziemlich deutsch über einen für euch junge Mädchen so gefährlichen Punkt. – Doch das Mehrere hierüber hernach. – Für jezt wünsche ich Dir Geduld, bis dein verworrener Handel mit deinem Vormund zu Ende geht. Indessen tröste Dich, Theure! – Es giebt ja doch noch viele gute Menschen in der Welt, leider, daß eben die meisten davon unglüklich sind, und sich aus[38] eigenem Elend ihren Mitmenschen nicht bemerkt machen können. Aber nun rathe ich Dir, Mädchen, mache Dich von deinem dringenden Verführer bald los; wir sind Menschen, und eh wir es uns versehen, fühlen wir es nur zu sehr, daß wir es sind. – Gegen unsere Sinnen läßt sichs weder tändeln, noch trozzen; das erstere ist gefährlich, und das leztere lächerlich. – Wohl Dir! Meine Liebe, wenn deine Eimpfindung noch lange unentwikkelt bleibt, sonst würdest Du vielleicht zu bald erfahren, wie schwach wir alle sind. Du kennst Dich selbst und unser Geschlecht zu wenig, wir haben so reizbare Nerven, so feurige Sinnen, eine so baufällige Vernunft und können so leicht überrascht werden, wäre es auch blos aus Gutherzigkeit. – Viele Männer sind undankbar genug, diese Himmelsgabe an uns Weibern zu ihrem Vortheil zu nüzzen. – Was nun den Dichter eines Romans betrift, so will ich Dir sagen; dieser muß seine Heldin engelrein schildern, um zu beweisen, daß er blos als Dichter – und nicht als Mensch schreibt. – In so vielen Duzzend Romanen erscheinen die meisten Heldinnen mit Larven; was darhinter stekt, muß sich der Vernünftige selbst denken, denn die Fälle in der Welt sind zu verschieden und die wenigsten originell geschildert. – Wäre der Stoff des Dichters immer Original, so würde die Welt voll von unschuldigen Mädchen strozzen. – Dergleichen gute Beispiele sollen nun freilich zur guten Nachahmung führen, sie würden auch ihren Zwek erreichen, wenn ihr Verfasser nicht über die Menschheit hinausschwärmte, und nicht unnachahmlich wäre. Wir wissen ja, daß es in der Natur des Menschen liegt, Fehler zu begehen; warum wollen wir sie verläugnen? Und findet man auch zuweilen einige seltene Menschen in der Welt, die beinahe völlig Herren über ihre Sinnen sind, so können doch diese einzelne nicht zum Beweis für viele hundert schwächere dienen, worunter der Haupttheil von gröbern Empfindungen, blos zur[39] Einschränkung ihrer Begierden, nicht aber zu Heldenzügen von gänzlicher Enthaltsamkeit, Anlage in sich fühlt. – Zur Ausübung einer geistigen Schwärmerei gehören ganz eigne Köpfe; bisweilen finden sich solche gleichgesinnte Enthusiasten: Furcht – Neuheit der Liebe – Stolz – Blödigkeit – gegenseitige Schamhaftigkeit und Ehrfurcht schrökken die wärmsten Begierden zurük, ob aber dies reine platonische Feuer nach mehreren Jahren von Umgang rein bleibt? – Diese Frage beantworte ich mir ganz still in mein eignes Ohr, und für Dich junges Mädchen mags so lang ein Geheimnis bleiben, bis Du mir einstens selbst die Frage bejahest oder verneinest. – Liebe, traute Kleine! – Sey während deiner Unerfahrenheit geizig auf die Ruhe deiner Seele und die Reinheit deines Körpers, die Stunden sind selig so lang der leztere schweigt. Tobende Leidenschaft möge Dich nie quälen! das ist der aufrichtigste Wunsch


Deiner Fanny.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 38-40.
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